Der Lazarus-Effekt

Eckart von Hirschhausen hat ein Herz für Long-Covid-Patienten. Seit der Fernseh-Doktor vor einigen Monaten einen Film über Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion gemacht hat, weiß er, wie sehr sich diese Menschen nach Hilfe sehnen und wie dreckig es vielen von ihnen geht. "Nach meiner letzten Doku über Long Covid haben mir unfassbar viele Menschen geschrieben", erzählt er. Deshalb habe er einen weiteren Film gemacht. "Für sie."

Doch mit seinem neuen Werk dürfte Hirschhausen den Long-Covid-Patienten einen Bärendienst erwiesen haben, wie Recherchen von NDR und Süddeutscher Zeitung zeigen. Im Film "Hirschhausen und Long Covid - Die Pandemie der Unbehandelten", der an diesem Montag zur besten Sendezeit in der ARD ausgestrahlt wird und bereits in der Mediathek verfügbar ist, jubelt Hirschhausen eine Therapie hoch, für deren Wirksamkeit es keine ernst zu nehmenden Belege gibt und vor deren Anwendung seriöse Ärzte sogar ausdrücklich warnen.

"Der Film macht mir wirklich Bauchweh", sagt Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz an der Berliner Charité, die zu Long Covid und verwandten Krankheitsbildern forscht. In seinem Film besucht Hirschhausen nicht nur Patienten mit schwersten Formen von Long Covid, er stattet auch der Ärztin Beate Jaeger in Mülheim an der Ruhr mehrere Besuche ab. Jaeger behandelt seit Monaten zum Teil schwer kranke Long-Covid-Patienten mit einer Lipid-Apherese (auch H.E.L.P.-Apherese genannt), einer Blutwäsche also, bei der Fette aus dem Blut gefiltert werden. Dabei wird das Blut aus der Armvene entnommen, läuft durch einen Apparat und gelangt anschließend gereinigt zurück in den Körper des Patienten.

Mehr als tausend Menschen will Beate Jaeger schon auf diese Weise behandelt haben, und sie meint: mit Erfolg. So schreibt sie es auf ihrer Website. Aus ganz Europa reisen seither verzweifelte Betroffene in der Hoffnung an, in Mülheim Linderung für ihr lang anhaltendes Leiden zu finden. 8000 Patientinnen und Patienten stehen laut Hirschhausen mittlerweile auf Jaegers Warteliste. Und es ist davon auszugehen, dass es nach seinem Film noch deutlich mehr werden.

Denn im Film trifft Hirschhausen auf mehrere Patienten, die von kolossalen Behandlungserfolgen mit der Lipid-Apherese berichten. "Ich fühle mich insgesamt viel besser", sagt einer von ihnen - er hat die Nadel für die Blutwäsche noch im Arm. Beate Jaeger erzählt von nahezu biblischen Heilungen - etwa dass "junge Krankenpfleger, die kaum vom Bett zur Küche kriechen konnten, nach zwei Apheresen plötzlich wieder Marathon laufen konnten". Patienten, denen die Therapie nicht geholfen hat, werden in der Doku hingegen nicht erwähnt. Hirschhausen sagt, dass einem der Film-Patienten die zweifache Behandlung nicht geholfen habe. Im Film wird das aber nicht thematisiert.

"Diese Behandlung wurde für Menschen entwickelt, die zu hohe Blutfettwerte haben", sagt die Long-Covid-Expertin Carmen Scheibenbogen von der Charité. "Es gibt zwar Hinweise, dass auch kleine Gerinnsel damit entfernt werden können, aber bislang keine sicheren Belege, dass sie Patienten mit Long Covid hilft." Wissenschaftlich tätige Ärzte warnen sogar vor dieser Therapie. So kommt die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie in einer Stellungnahme im August zu dem Schluss: "Ohne fundierte wissenschaftliche Daten kann keine Empfehlung für die Durchführung dieser Therapieverfahren ausgesprochen werden, auch da es bei ihrer unsachgemäßen Anwendung zu schweren Komplikationen kommen kann." Und in der Leitlinie für Ärzte zur Behandlung von Long und Post-Covid heißt es: "Wenn es auch positive Fallberichte und kleine Fallserien geben mag, ist aktuell von einer generellen Anwendung dringend abzuraten."

"Ich habe Sorge, dass der Film dazu führen wird, dass viele Patienten in ihrer Verzweiflung Geld in die Hand nehmen und sich so eine Lipid-Apherese machen lassen", sagt Carmen Scheibenbogen. Denn Ärzte können Patienten, die schwer von Post- oder Long Covid betroffen sind, oft nicht so gut helfen, dass diese wieder ihr normales Leben zurückbekommen.

In ihrer Not klammern sie sich verständlicherweise an solche Geschichten, wie sie Beate Jaeger und Eckart von Hirschhausen erzählen. Der Apherese-Experte Jan Kielstein, Chefarzt für Innere Medizin und Blutreinigungsverfahren am Städtischen Klinikum Braunschweig, warnt, dass sich bereits ein Markt für solche Therapien entwickelt habe. Bis zu 3000 Euro müssten Patientinnen und Patienten aus eigener Tasche für eine einzige Blutwäsche zahlen, sagt Kielstein, der auch Vorstand der European Group der International Society for Apheresis ist. Eine Apherese ist aber in der Regel nicht genug, es wird meist eine ganze Reihe durchgeführt. "Ich kenne Patienten, die haben schon zigtausend Euro für nutzlose Long-Covid-Behandlungen ausgegeben", sagt Kielstein.

Beate Jaeger reagierte auf Fragen von SZ und NDR nicht. Auf ihrer Website schreibt sie, dass Long Covid durch Mikrogerinnsel und Entzündungen in den Blutgefäßen verursacht werde. Deshalb sei die Blutwäsche ein vielversprechender Ansatz. Carmen Scheibenbogen sagt, dass das Gerinnungssystem in der akuten Phase einer Corona-Infektion tatsächlich häufig eine hohe Aktivität zeige, auch Entzündungsprozesse in der Innenschicht der Blutgefäße sind in der Fachliteratur dokumentiert. "Ob und wie genau das aber zu Long-Covid-Symptomen führen kann, ist bislang unklar."

Hirschhausen selbst sagt auf Anfrage, dass er immer wieder im Film auf die mangelnde Studienlage hingewiesen habe: "Ziel des Filmes war und ist es, zu zeigen, wie miserabel die Diagnosekriterien, die Versorgung und der Wissensstand ist."

Im Film klingen Zweifel allerdings kaum an. Hirschhausen erwähnt dort zwar, dass "vielen Ärztinnen und Ärzten die Studienlage noch zu dünn" sei. Aber zugleich nennt er Jaeger eine "Prophetin". Wer den Film sieht, der kann nur zu dem Schluss kommen, dass eine Lipid-Apherese eine großartige Chance für Patienten mit schwerem Long Covid ist.

Der Apherese-Experte Kielstein findet es "irreführend", dass im Film nur von Erfolgen der Behandlung die Rede sei. Anders als im Film tauchen bei ihm in der Klinik immer wieder Long-Covid-Patienten auf, denen es nach einer Lipid-Apherese keinen Deut besser geht. Doch Hirschhausen versäumt es nicht nur, über Nebenwirkungen und Misserfolge der Apherese zu sprechen, er lässt sich sogar selbst das Blut waschen. Dabei hat er nach eigener Aussage gar kein Long Covid.

In Kielsteins Augen ist das ein weiterer Tabubruch: Dass Hirschhausen die Methode aus Neugier einfach mal an sich ausprobiert, vermittele zu allem Überfluss den Eindruck, die Apherese sei ein harmloses Verfahren. Dabei kann sie durchaus Nebenwirkungen haben. Dazu zählen allergische Reaktionen, Blutdruckabfall und eine erhöhte Blutungsneigung.

Der WDR, der die Doku verantwortet, weist auf Anfrage darauf hin, dass Hirschhausen im Film selbst sage, dass er skeptisch sei, ob ihm die Apherese viel bringe. Überhaupt stellt sich der WDR auf den Standpunkt: "Der Film empfiehlt zu keinem Zeitpunkt eine Therapie."

Es ist schon so: Mit einem neuen, unerforschten Krankheitsbild, wie Long Covid es ist, muss man manchmal Dinge auch einfach ausprobieren. Die Medizin spricht dann von Heilversuchen bei einzelnen Patienten. Doch nach den ethischen Grundsätzen der Wissenschaft ist es unabdingbar, dass eine solche Therapie so bald wie möglich im Rahmen einer Studie seriös überprüft wird, bevor weitere Heilversuche erfolgen. "Es gibt Regeln in der Medizin, dass man so große Fallzahlen nicht behandeln sollte, bevor man keine Evidenz geschaffen hat", sagt Michael Hallek, Direktor der Klinik für Innere Medizin I am Uniklinikum Köln und Leiter des Arbeitskreises Long Covid beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer.

In jedem Fall sollten Ärzte, die so viele Lipid-Apheresen machen, mit Studien belegen, dass das Verfahren einen Nutzen hat, sagt auch Tobias Welte. Der Pneumologe behandelt Long-Covid-Patienten schon seit April 2020 in seiner Long-Covid-Ambulanz an der Medizinischen Hochschule Hannover. Die Lipid-Apherese hält er für Unsinn. Gerade bei Long Covid sei die Gefahr eines Placeboeffekts hoch. Denn oft bildet sich das Krankheitsbild von selbst zurück. "Meiner Meinung nach wissen das auch die Hersteller der Geräte und scheuen deshalb Studien." Denn solange es keine Studien gibt, die die Nutzlosigkeit zeigen, könne man immer wieder Patienten eine Blutwäsche verkaufen.

Auf ihrer Website verspricht Beate Jaeger, dass "die bisher guten Therapieergebnisse in Kürze als Studie zur Verfügung stehen". Genaue Angaben zur Studie macht sie allerdings nicht. Eine Studie kann aber natürlich nur dann verlässliche Antworten liefern, wenn sie gut gemacht ist. Dann bringen die Ergebnisse Überzeugungen auch mal zum Einsturz. Wie in den 1970er-Jahren. Damals hielt man die Blutwäsche für eine gute Therapie gegen Schizophrenie. Immer wieder berichteten Ärzte, wie gut die Methode bei ihren Patienten gewirkt habe - bis einige eine Placebo-kontrollierte Studie machten: Die 1981 in Science veröffentlichte Arbeit zeigt, dass es Patienten mit Blutwäsche nicht besser erging als solchen, bei denen das Blut einfach nur durch eine Maschine geleitet wurde - ohne, dass es dort gereinigt wurde.