Geimpft, genesen oder gefälscht

Maximilian Wilke steht in seiner Apotheke im Lichtenberger S-Bahnhof im Osten von Berlin. Draußen singen Menschen Weihnachtslieder, drinnen stehen sie Schlange. Viele wollen sich digitale Impfzertifikate ausstellen lassen. Nur mit diesen Nachweisen einer vollständigen Impfung oder einer Genesung kann man in Berlin derzeit aufgrund der 2G-Regelung ein Restaurant oder ein Museum besuchen. "Am Anfang war man noch euphorisch", sagt Wilke. Er erzählt, wie er die ersten gefälschten Impfpässe entdeckt habe. Mal passten die Angaben zum angeblichen Impfzentrum oder der Arztpraxis nicht, mal kam durch einen Anruf bei der Herstellerfirma heraus, dass die Chargennummern der Impfdosen gar nicht existierten. Der Aufwand, solche Fälschungen zu erkennen, ist mitunter sehr groß - und zeitaufwendig für Wilke und seine Kolleginnen und Kollegen. Mittlerweile hat der Berliner Apotheker Tausende Zertifikate ausgestellt und dabei zahlreiche Fälschungen identifiziert. Wie viele es genau waren, das kann er nur schätzen. "Vielleicht fünf bis zehn Prozent", sagt Wilke.

Ertappte reagieren unterschiedlich Noch vor einigen Wochen hat Wilke die Fälschungen bei der Polizei regelmäßig angezeigt - teilweise mehrfach pro Tag. Es kam zu kuriosen Szenen. Manche Kunden, die auf diese Weise versuchten, sich digitale Impfnachweise zu erschleichen, rannten aus Angst aus der Apotheke. Andere versuchten zu diskutieren, wurden wütend, sogar aggressiv. In einer anderen Filiale in Berlin, so erzählt Wilke, habe man nun die Ausstellung der digitalen Zertifikate vollständig gestoppt. Dort war ein Kunde, der einen gefälschten Impfpass vorgelegt hatte, kürzlich in das Hinterzimmer der Apotheke gestürmt und hatte eine Mitarbeiterin attackiert. "Heute machen wir keine Anzeigen mehr", sagt Wilke leicht resigniert in der Apotheke im S-Bahnhof. Der Grund: Aus seiner Sicht fehle es an einer klaren Rechtslage. "Es ist nicht klar geregelt, ob wir mit so einer Anzeige bei der Polizei nicht gegen das Berufsgeheimnis für Apotheker verstoßen", so Wilke.

Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), eine der mächtigsten Lobbyorganisationen im Gesundheitswesen und eigentlich nie verlegen, in Apothekerangelegenheiten klare Positionen zu beziehen, bleibt auf Anfrage vage. Sollen Apotheker bei gefälschten Impfpässen die Polizei rufen? Für ABDA-Sprecher Rainer Kern liegt das "im Ermessen eines jeden Apothekers". Dazu gebe es "keine eindeutige Regel", sagt Kern. "Deswegen kann es dazu von uns auch keine generelle Empfehlung geben." Klar sei nur, dass Apotheker bei offensichtlichen Fälschungen kein digitales Zertifikat erstellen dürfen. Die "Pharmazeutische Zeitung" hatte Anfang Dezember verschiedene Juristen zu Wort kommen lassen; sofortige Strafanzeige bei der Polizei zu stellen, sei "oft nicht ratsam", so das Fachblatt. Zwar habe etwa die Apothekerkammer Sachsen mit dem Sozialministerium in Dresden eine Vereinbarung getroffen, der zufolge Apotheker straffrei ausgehen sollen, wenn sie bei gefälschten Impfpässen die Polizei rufen. Allerdings rät die Apothekerkammer Bayern, sich davor "bei der Staatsanwaltschaft beraten zu lassen". Der Jurist der Kammer habe aber "größtes Verständnis" für alle Apotheker, denen das "zu umständlich" sei.

Dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) ist das Problem offenbar gar nicht bekannt. Das Ministerium habe "keine Hinweise, dass Apotheken gefälschte Impfausweise nicht anzeigen würden". Dennoch nehme man die Anfrage von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" nun zum "Anlass, diesen Hinweisen nachzugehen". Was sind das aber für Leute, die mit gefälschten Impfpässen in die Apotheke kommen? "Das geht querbeet durch die Gesellschaft", sagt Apotheker Wilke. Junge und Ältere, Leute mit und ohne Migrationshintergrund, allerdings etwas mehr Männer als Frauen, seiner Beobachtung nach. Ein Depressiver sei auch dabei gewesen, der habe große Angst vor Spritzen gehabt, sagt Wilke. "Den habe ich nicht angezeigt, sondern ihm nur gesagt, dass ich für seinen gefälschten Impfpass kein Zertifikat ausstellen kann. Ich vermute, er hat es dann eben in einer anderen Apotheke versucht."

Auch die Staatsanwaltschaften betrachteten das Phänomen der gefälschten Impfnachweise lange Zeit durchaus unterschiedlich. Erst das überarbeitete Infektionsschutzgesetz, das Ende November in Kraft trat, hat diese Rechtslücke nach Ansicht einiger Staatsanwälte tatsächlich geschlossen. Nun ist eben nicht nur die Anfertigung und der Handel, sondern auch die Vorlage von gefälschten Impfpässen zweifelsfrei strafbar. Und somit dürfte auch die Zahl der Verfahren bundesweit steigen. Für Wilke und seine Kollegen ist die verschärfte Rechtslage jedoch nur teilweise ein Trost. Noch immer sind es vor allem Apotheken, die mit gefälschten Impfpässen konfrontiert werden - und dort ermitteln müssen, ob es sich um einen echten Nachweis handelt oder eben nicht. Wilke verweist darauf, dass dafür eigentlich das Personal und die Zeit fehlten. Wenn er heute einen gefälschten Impfpass vermutet, schicke er die Leute nur noch weg. "Ich spreche die sehr forsch an und sage, sie sollen nicht mehr wiederkommen." "Wir versorgen die Menschen mit Gesundheit. Das ist ja eigentlich unser Hauptgeschäft", so Wilke. Seit der Apotheker weiß, wie viele gefälschte Impfausweise in Umlauf seien, wirke sich das auch auf sein Privatleben aus. "Ich besuche kaum noch Gastronomie", sagt der Apotheker. "Die 2G-Regelung halte ich für eine Scheinsicherheit. Eigentlich ist dieses 2G ein 3G: geimpft, genesen oder gefälscht."