Gut organisierte Ignoranz

Viele Gesundheitsämter in Deutschland haben auch zwei Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie offenbar keinen Überblick über den Schutz von Seniorinnen und Senioren in Pflegeheimen. Das ergab eine Umfrage von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) bei mehr als 370 der Behörden, von denen gut 180 antworteten. Knapp zwei Drittel gaben an, keinen Überblick über den Impfschutz von Seniorinnen und Senioren in Pflegeheimen zu haben. Gut 130 von ihnen wissen zudem nicht, wie hoch der Anteil der Geimpften beim Pflegepersonal ist. Dabei sind alte Menschen und vor allem die Bewohner von Pflegeheimen die am stärksten gefährdete Gruppe in der Pandemie. Die Umfrage ist nicht repräsentativ, zeigt aber einen klaren Trend. Dabei ist es nicht überall so schlecht: Die Landkreise Düren und Heinsberg etwa haben einen nahezu vollständigen Überblick über die Lage in den Pflegeheimen.Pflegebeauftragter ebenfalls ahnungslos Doch das sind Ausnahmen: Das verbreitete Nicht-Wissen setzt sich auf politischer Ebene fort. So erklärte Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn in der vergangenen Woche in der Bundespressekonferenz, dass der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, sich "täglich ein Bild über die Lage in den Einrichtungen mache".

Auf Anfrage konnte Westerfellhaus jedoch weder beantworten, wie viele Corona-Ausbrüche es in Pflegeheimen derzeit gibt, noch wie viele Bewohnerinnen und Bewohner geboostert oder wie viele Beschäftigte geimpft sind. Für all diese Fragen solle man bitte das Robert Koch-Institut (RKI), fragen, ließ Westerfellhaus ausrichten.Keine systematische Erfassung beim RKI Doch auch das RKI erfasst die Impfsituation in Heimen nicht. Immerhin verweist es auf eine nicht-repräsentativen Umfrage unter 173 Altenheimen, wonach 55 Prozent der Bewohner geboostert seien.  Dabei sind alte Menschen und vor allem die Bewohner von Pflegeheimen die am meisten gefährdete Gruppe in der Pandemie. 85 Prozent aller Corona-Todesfälle in Deutschland betreffen Menschen, die 70 Jahre oder älter sind. Dramatischer Fall in Thüringen Welche dramatischen Folgen eine unzureichende Impfquote in Pflegeheimen haben kann, zeigt sich derzeit in Saalfeld-Rudolstadt in Thüringen. Dort sind in einem Pflegeheim, in dem ein Drittel der Bewohner nicht geimpft war, in den vergangenen Tagen 28 Menschen gestorben.

Nach einem Corona-Ausbruch in einem Rudolstädter Pflegeheim sind 18 Bewohnerinnen und Bewohner gestorben.

Allerdings sei allen eine Impfung angeboten worden. Der Sprecher des Landratsamts teilte auf Anfrage mit: "Die Nicht-Impfung ist in diesen Fällen also eine bewusste Entscheidung der Bewohner beziehungsweise von deren Angehörigen und Betreuern und liegt nicht an Terminengpässen in der Impfstelle."Teilweise extrem niedrige Impfraten Auch unter den 50 Gesundheitsämtern, die auf Anfrage von WDR, NDR und SZ Zahlen zum Impfstatus in den Pflegeheimen vorlegten, ist die Lage vor Ort mitunter prekär. So waren in den Senioreneinrichtungen im Burgenlandkreis 60 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner nicht geboostert (Stand 26. November). Im Landkreis Wunsiedel hatten am 22. November 57 Prozent der Menschen in Pflegeheimen noch keine Drittimpfung, im bayerischen Altötting 45 Prozent. Dabei gibt es in mehr als einem Viertel aller bayerischen Pflegeeinrichtungen einen Corona-Ausbruch (Stand 29. November). Einige Landkreise teilen jedoch auch mit, dass in ihren Heimen rund 90 Prozent vollständig geimpft und teilweise sogar fast alle Bewohner auch geboostert sind. Nicht nur in Heinsberg, wo zu Beginn der ersten Welle viele Menschen an Corona verstorben sind, auch andernorts geben Heime an, oft aufgrund eines vorherigen heftigen Ausbruchs heute hohe Impfquoten unter Bewohnern und Pflegenden erreicht zu haben, weil das Bewusstsein für die Gefahr der Krankheit dort sehr stark sei.

Als das Virus erkannt wurde, war es zu spät: Innerhalb weniger Tage infizierten sich 112 Bewohner eines Pflegeheims in Wolfsburg mit Corona, 47 von ihnen starben. Auch viele Pflegekräfte erkrankten an Covid-19.

Unterschiedliche Impfquoten auch beim Personal Auch beim Personal in den Heimen ist die Impfsituation mitunter schlecht. Während in ganz Deutschland 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung nicht geimpft ist, ist der Anteil bei Pflegebeschäftigten in vielen Heimen am 26. November sogar noch höher. So waren zum Zeitpunkt der Umfrage im Landkreis Wunsiedel 22 Prozent nicht vollständig geimpft, im Landkreis Unterallgäu 24 Prozent, in Dillingen an der Donau 26 Prozent, im Kreis Donau-Ries 28 Prozent, im Main-Kinzig-Kreis 29 Prozent, in Altötting 32 Prozent und im Burgenlandkreis, wo die Sieben-Tage-Inzidenz aktuell 1200 beträgt, 34 Prozent. Das Bayerische Gesundheitsministerium teilt auf Anfrage mit, dass zum Stichtag 1. November 28 Prozent der Pflegekräfte in Altenheimen nicht vollständig geimpft waren. Zum Stand der Auffrischungen gibt es kaum Daten, Zahlen aus einzelnen Landkreisen und Angaben von Trägern lassen aber darauf schließen, dass derzeit kaum mehr als jede vierte Pflegekraft geboostert ist. Einzelne Heime haben sich Sonderanreize überlegt: Die Diakonie Wolfsburg etwa, Träger eines Heims, in dem im Frühjahr vergangenen Jahres 47 Bewohner nach einer Corona-Infektion verstarben, hat sogar Prämien an Pflegeteams ausgelobt, die vollen Impfschutz erreichen. Nun habe man in diesem Heim eine Impfquote unter Mitarbeitern von 100 Prozent erreicht. 

Dass in vielen Heimen gerade mal die Hälfte der Seniorinnen und Senioren die medizinisch notwendige Drittimpfung bekommen haben, ist kaum verständlich - zumal die Gesundheitsministerkonferenz der Bundesländer das schon im Sommer angestoßen hatte. Am 6. Juli hatten die Gesundheitsminister die Ständige Impfkommission (STIKO) um eine Empfehlung gebeten, wann bei "besonders vulnerablen Gruppen wie hochbetagte Menschen" mit der dritten Impfung begonnen werden sollte. Die Empfehlung der STIKO kam dann drei Monate später, am 7. Oktober. Doch schon am 2. August hatte die Konferenz der Gesundheitsminister beschlossen, dass "ab Ende September vulnerablen Gruppen eine Auffrischimpfung angeboten wird" - nur passiert ist dann lange Zeit fast nichts. 

Zudem rät das Gremium dazu, bestimmte Berufsgruppen ein drittes Mal zu impfen - etwa im Pflegebereich.

Mal lag es daran, dass die mobilen Impfteams abgebaut wurden, mal hatten Hausärzte ihre Corona-Impfungen wieder eingestellt, mal war das Impfzentrum geschlossen worden, aus dem zuvor auch die Heime versorgt wurden. Auch wenn die Impfungen in den letzten beiden Wochen deutlich angezogen haben, hatten bis Montag dieser Woche bundesweit erst 33 Prozent der Über-Sechzig-Jährigen eine Boosterimpfung erhalten. In Berlin sind es immerhin 45 Prozent, in Sachsen dagegen nur 25 Prozent. Oft fehlt es an Informationen Die Verantwortlichen im Pflegeheim Jacobus in Osthofen bei Worms hätten gerne schon Ende August alle Bewohner geboostert. Doch die unklaren Vorgaben verzögerten die Auffrischungen durch die Hausärzte. Anfang Oktober kam es dann zu einem Ausbruch. Mehr als Hundert Bewohnerinnen und Bewohner erkrankten, 13 von ihnen starben. Danach wurden die nicht-infizierten Bewohner durch ein mobiles Impfteam geboostert - nicht aber das Personal. Die Pflegekräfte müssen sich individuell Termine beim Hausarzt oder im Impfzentrum suchen, sagt die Einrichtung.