Die Luftfilter-Lobby

Am 9. Juli, als die Corona-Zahlen noch sommerlich niedrig waren, schalteten sich Vertreter der Bundesländer zu einer eher unerfreulichen Videokonferenz zusammen. Das „Problem“, so steht es in einem internen Protokoll des Bundesgesundheitsministeriums, das der SZ vorliegt: „Vor dem Hintergrund einer möglichen 4. Welle erhöht sich der Druck der Öffentlichkeit auf die Politik, auch mobile Luftreiniger für Klassenräume zu fördern, obwohl es hierfür keine sichere Evidenz für den Nutzen gibt.“

Die Teilnehmer berichteten über ihre Verunsicherung, über unterschiedliche Antworten auf das Problem, einige räumten ein, sie förderten die Geräte vor allem wegen des öffentlichen Drucks. Einige Tage später entschied die Bundesregierung, 200 Millionen Euro zu Verfügung zu stellen, damit die mobilen Geräte in solchen Klassenzimmern und Kitaräumen aufgestellt werden können, die nicht ausreichend über die Fenster gelüftet werden können.

Rechnet man Landesmittel hinzu, belaufen sich die Förderungen nach SZ-Recherchen auf mittlerweile etwa 700 Millionen Euro. Doch bei der Anschaffung der Geräte gibt es weiterhin Unterschiede – und viel Unzufriedenheit. Noch immer fordern vor allem Elternvertreter, die Schulen flächendeckend mit den Lüftungsgeräten auszustatten. Sie berufen sich dabei vor allem auf einen Wissenschaftler: Christian Kähler, Leiter des Bereichs Strömungsmechanik an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg bei München.

Der Physiker beschäftigt sich schon lange mit den Bewegungen von Gasen, seit Beginn der Pandemie auch mit Luftfiltern. Mittlerweile ist wohl niemand in der Diskussion so präsent wie er, befindet Kähler selbst. Mehrfach sei er in der Kultusministerkonferenz gewesen, er habe das Bundeswirtschaftsministerium beraten, stehe im Austausch mit weiteren Ministerien auf Bundes- und Landesebene. Hunderte Anfragen habe er erhalten, von Kommunen, Schulen und „besorgten Eltern, die sich hier einsetzen für ihre Kinder“, sagt Kähler: Die Luftfilter seien für ihn „sozusagen das Hauptgeschäft“.

In dessen Rahmen ruft er unermüdlich dazu auf, hochwertige Luftfilter in allen Klassenräumen aufzustellen, da die Lüftung über die Fenster in aller Regel nicht genüge, um Viren aus einem Raum zu entfernen.

Das kontrastiert stark mit den Empfehlungen des Umweltbundesamtes (UBA), auf das auch das Robert-Koch-Institut (RKI) verweist. Das UBA hält die herkömmliche Fensterlüftung in der Mehrzahl der Schulzimmer für ausreichend. Es argumentiert, dass die Fenster ohnehin regelmäßig geöffnet werden müssen, um CO2, Feuchtigkeit und Gerüche aus den Zimmern zu entfernen. Und dass die Raumtemperatur beim richtigen Lüften nicht sehr stark absinke. Eine ganze Reihe Expertengremien teilen diese Auffassung im Kern. Caroline Herr, Präsidentin der Gesellschaft für Hygiene, Umweltmedizin und Präventivmedizin (GHUP) sagt: „Keine medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft spricht sich für einen flächendeckenden Einsatz dieser Geräte aus.“

Kähler hält diesen Einschätzungen entgegen, dass er zu „den ganz wenigen“ gehöre, die sich wirklich „forschend mit diesen Geräten auseinandergesetzt haben“. Doch gebührt seiner Forschung tatsächlich ein solch überragender Stellungwert in der öffentlichen Diskussion?

Keine von Kählers Arbeiten zu Luftreinigern ist in einem wissenschaftlichen Journal publiziert. Nahezu alle sind von Luftfilterherstellern finanziert. „Für ungefähr“ zehn Firmen habe er Untersuchungen durchgeführt, sagt Kähler. Darunter ist auch das Unternehmen Trotec, das nicht nur Luftfilter vertreibt, sondern auch spezielle Trennwände mit einer umlaufenden Kante; sie hat ein Gebrauchsmuster, also eine Art Patent, dafür eingetragen. Genau diese Trennwände empfiehlt Kähler ebenfalls mit Nachdruck in mehreren Aufsätzen.

In einer seiner Arbeiten ist zu lesen, dass Trotec ihm auch Geld „als Teil seines Gehaltes gezahlt“ hat. Das Unternehmen teilt mit, die Universität hätte der Firma „die angefallenen Personalkosten sowie den Verwaltungsaufwand“ in Rechnung gestellt. Kähler selbst weiß auf Nachfrage nicht, um welche Studie es sich handelt, und antwortet: „Wundert mich jetzt ein bisschen.“

Andere wundern sich darüber, wie sehr Kähler mit seinen Untersuchungen in die Öffentlichkeit drängt. Er tritt in Videos auf, er verfasst Kommentare, er schreibt in forderndem Ton an Politiker. Anders als in seinen wissenschaftlichen Artikeln legt er bei diesen Aktivitäten seine Interessenskonflikte nicht immer offen.

Vor diesem Hintergrund wirkt heikel, dass Kählers Arbeiten auch inhaltlich einige Auffälligkeiten aufweisen. In den meisten Untersuchungen bestätigt Kähler im Grunde nur, dass die Filtergeräte tatsächlich ordentlich arbeiten. Der eigentlichen Streitfrage „Filtern oder Lüften?“ nähert er sich in zwei Studien an. Dabei wählt er allerdings für das Lüften auffallend ungünstige Bedingungen. In einem Fall lüftet er nur über eine zum Flur führende Tür. Im anderen Fall tauscht er die Luft eines für etwa 100 Personen ausgelegten Hörsaals lediglich über zwei kleine Fenster aus, die für diesen Zweck gar nicht gedacht sind, weil der Saal über eine eingebaute Raumluftanlage verfügt.

Potenziellen Nachteilen der mobilen Luftfilter begegnet Kähler mit Argumenten, die längst nicht jeder als stichhaltig betrachtet. So hält er die viel diskutierte Lärmbelastung der Geräte für zuträglich, weil sie den Wert von 52 Dezibel nicht überschreite. Für Schulklassen seien aber nur 35 Dezibel erlaubt, sagt Julia Hurraß vom Gesundheitsamt Köln, die sich ebenfalls mit Luftfiltern befasst hat. Sie kenne kein Gerät, das den Wert einhält.

Auch in der Darstellung seiner Arbeiten ist Kähler nicht immer exakt. In einem Text schreibt er: „Die Wirkungsweise der Raumluftreiniger wurde in verschiedenen unabhängigen Studien erforscht“, führt als Quelle aber auch seine eigenen gesponserten Arbeiten auf.

Andere Fachleute reagieren auf Kählers Vorschläge teilweise mit deutlicher Kritik. „Das sind alles theoretische und spekulative Überlegungen“, sagt Emil Reisinger, Infektiologe und Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Rostock: „Wenn man behauptet, dass sich mit diesen Luftfiltern und mit Plexiglaswänden niemand mehr infiziere, dann ist das schlicht nicht richtig.“ Eva Rehfuess, Public-Health-Expertin der Ludwig-Maximilians-Universität München, fügt hinzu: „Es gibt kein Allheilmittel, um jede Infektion an Schulen zu verhindern – weder die Luftreiniger noch das Testen.“

Einer der wichtigsten Einwände, der gerade aus dem eher medizinisch geprägten Bereich kommt, ist, dass es bis heute noch keinen Nachweis gibt, in welchem Maße die Geräte tatsächlich Infektionen verhindern. Dabei, so sagt es Peter Sawicki, ehemaliger Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, „wäre eine solche Studie weder teuer noch schwierig zu machen, noch würde ihre Durchführung lange dauern“.

Kähler hält diesen Nachweis für nicht unbedingt erforderlich. Für ihn ist das eigentliche Problem, dass „die physikalischen Grundlagen, die da wichtig sind, nur von den technischen Persönlichkeiten verstanden und beherrscht werden“. Und doch bekommt er auch aus dem technischen Bereich Widerspruch. Der Ingenieur Martin Kriegel, Leiter des Instituts für Energietechnik der TU Berlin, beanstandet in einem 26 Seiten starken Papier von Kähler, in dem dieser sich für Luftfilter und Schutzwände starkmacht, insgesamt 26 Stellen, die technisch gesehen falsch, irreführend oder unwissenschaftlich seien. Kähler wollte sich öffentlich dazu nicht äußern.

Einige Kollegen sprechen sich zwar wie Kähler für technische Lösungen aus, doch stimmen sie nicht wirklich mit dessen Konzept und schon gar nicht mit dessen Rigorosität überein. So stellt ein Team um den Physiker Joachim Curtius von der Universität Frankfurt mobilen Luftreinigern ein gutes Zeugnis aus, beschreibt sie aber als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme, „insbesondere für Fälle, wo die Fenster nicht richtig geöffnet werden können“.

Die Gesellschaft der Aerosolforscher hält mobile Luftfilter für sinnvoll, weist aber darauf hin, dass es – anders als von Kähler gefordert – längst nicht immer die leistungsfähigsten Filter der Klasse H13 oder H14 sein müssen. Als „großes Problem“ bezeichnet es Christof Asbach, Präsident der Gesellschaft, dass Forderungen nach diesen Filtern den Preis der Geräte in die Höhe getrieben hätten.

Andere setzen eher auf ventilatorgestützte Systeme, wie der Physiker Eberhard Bodenschatz, Direktor des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation. Auch ein interdisziplinäres Team, an dem unter anderem das Max-Planck-Institut für Chemie und das Institut für Bauphysik, Gebäudetechnik und Hochbau an der TU Graz beteiligt waren, spricht sich für eine Lüftung mit Unterstützung durch Ventilatoren aus.

Die verschiedenen Ansätze und Details zeigen, dass es durchaus noch Diskussionsbedarf über die beste Strategie der Luftreinigung gäbe. Doch das Klima ist mittlerweile so aufgeheizt, dass ein sachlicher Austausch schwerfällt. Dies erfuhren auch die mehr als 30 Fachgesellschaften und Interessengruppen, die eine wissenschaftliche Leitlinie für den sicheren Schulbetrieb in Pandemiezeiten veröffentlichten und kontinuierlich aktualisieren. Bisher hatten sich deren Autoren sehr zurückhaltend zu den Luftfiltern geäußert. In der anstehenden Aktualisierung wird es nun gar keine Aussage zu den portablen Luftreinigern mehr geben, wie die SZ aus Teilnehmerkreisen erfuhr. Die Diskussionen, in denen sich einige Teilnehmer auch nachdrücklich auf Kählers Arbeiten beriefen, verliefen so zäh und unfruchtbar, dass am Ende keine Formulierung die nötige Zustimmung fand. Das maßgebliche Dokument für den Schulbetrieb in Pandemiezeiten bleibt damit in der Hunderte Millionen Euro betreffenden Frage der Luftfilter stumm. Kähler hat derweil schon einen neuen Auftrag von Trotec bekommen: ein Hygienekonzept für das Gastgewerbe.