Falsche Anreize bei Intensivbetten

 

Seit einer Woche gibt es Diskussionen darüber, ob Kliniken in der Corona-Krise die Zahl freier Intensivbetten künstlich verringert haben, um dadurch Ausgleichszahlungen durch die Regierung zu erhalten. Erhoben hat die Vorwürfe der Bundesrechnungshof in seinem ersten Bericht über die Corona-Politik der Bundesregierung. Die Behörde zitiert dazu ein Schreiben des Robert Koch-Instituts (RKI) an das Gesundheitsministerium vom 11. Januar, laut dem die "Krankenhäuser zum Teil weniger intensivmedizinische Behandlungsplätze meldeten, als tatsächlich vorhanden waren."

Doch was in dem Schreiben genau stand, war bisher unklar. RKI-Präsident Lothar Wieler erklärte vergangene Woche in der Bundespressekonferenz, er kenne das Schreiben nicht und sei deshalb "nicht sprechfähig". Auch RKI-Sprecherin Marieke Degen beantwortete im Nachgang keine konkreten Fragen zu dem heiß diskutierten Schreiben. Nun liegt das Schriftstück aber WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" vor. Es umfasst sechs Seiten und stammt vom Leiter des DIVI-Intensivregister-Teams am RKI. Empfänger des Briefs war Staatssekretär Thomas Steffen im Gesundheitsministerium. Im Januar, so steht in dem Schreiben, hätten 70 Prozent der Intensivstationen angegeben, "begrenzt oder komplett ausgelastet" zu sein. "Als vornehmlicher Grund der Einschränkung gilt der Personalmangel" und die "zunehmende Erschöpfung des Personals". 

Auf Seite fünf nennt der Brief dann aber noch andere mögliche Gründe: "Die aktuellen Ausgleichszahlungen seit Mitte November haben monetäre Anreize für eine veränderte Eingabe der Bettenkapazitäten geschaffen." In immer mehr Krankenhäusern würden deshalb nicht die Intensiv-Ärzte, sondern Controller, also Pfennigfuchser, die Zahlen ans Intensivregister melden, "teilweise offenkundig um monetäre Nachteile für den Standort zu vermeiden". Jedenfalls seien beim RKI "in zahlreichen E-Mails und Anrufen" entsprechende Nachfragen eingegangen. Die Zunahme sei "Grund zur Sorge", auch wenn der Umfang der veränderten Meldungen "aktuell schwer einzuschätzen" sei. Denn es sei für die Mediziner ein großes Problem, wenn sie den Angaben im Intensivregister nicht mehr trauen könnten, weil das Register ja vor allem Rettungsleitstellen und benachbarten Kliniken zeigen soll, wo es tatsächlich noch freie Betten gebe. Diese Angaben würden "empfindlich gestört", wenn die im DIVI-Register angegebenen freien Betten für Ausgleichszahlungen herangezogen werden.  Das Intensivregister ist eine gemeinsame Datenbank der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und des RKI. Während das Team beim RKI auf mögliche Falschmeldungen aufmerksam macht, gibt sich die Vereinigung der Intensivmediziner nach Bekanntwerden des Rechnungshofberichts empört: "Wir weisen den Verdacht entschieden zurück, Kliniken würden sich in großem Stil durch bewusste Falschmeldungen bereichern", erklärte die DIVI. Die Daten im Register "waren zu jeder Zeit belastbar", also korrekt. 

Ob das stimmt, lässt sich genauso schwer belegen wie das Gegenteil. Vollkommen unklar ist zudem, in welchem Ausmaß Zahlen künstlich klein gerechnet worden sein könnten. Innerhalb des RKI geht man nach Informationen von WDR, NDR und SZ unter den beteiligten Wissenschaftlern davon aus, dass "nur in einem kleinen einstelligen Prozentbereich" freie Intensivbetten verheimlicht wurden. Die Vorstellung, dass deshalb mit falschen Zahlen ein Lockdown begründet worden wäre, sei abwegig, heißt es im RKI. Durch die Verknüpfung des DIVI-Registers mit den Freihaltepauschalen sei die Datenbank allerdings "manipulationsanfällig". Davor wollte das DIVI-Team am RKI mit seinem Schreiben das Ministerium offenbar warnen. Tatsächlich konnten Kliniken seit dem 18. November genau dann in großem Stil Freihaltepauschalen kassieren, wenn es in ihrem Landkreis weniger als 25 Prozent freie Intensivbetten gab und die Corona-Inzidenz bei mindestens 70 lag. Die Pauschalen gab es dabei aber nicht etwa nur für die Intensivbetten, sondern für alle freien Betten eines Klinikums. Ein 600-Betten-Haus konnte auf diese Weise leicht 50.000 Euro Freihaltepauschalen pro Tag kassieren. Zuletzt bezog nach Angaben des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenkassen jedes zweite Krankenhaus, genau 977 Kliniken, Geld durch diese Pauschalen.   "Goldenes Jahr der Krankenhausfinanzierung" Dass die Politik mit den Freihaltepauschalen womöglich die falschen finanziellen Anreize geschaffen hat, ist allerdings auch unter Intensivmedizinern ein offenes Geheimnis. Namentlich zitieren lassen will sich damit aber keiner. So sagt zum Beispiel der Chefarzt und Leiter der Intensivmedizin eines großen Klinikums in NRW, dass die Priorisierung der Covid-Patienten über die Freihaltepauschalen dafür gesorgt habe, dass andere Patienten zu spät nötige Untersuchungen und Eingriffe bekommen hätten. "Eine gesellschaftliche Debatte über die Priorisierung der Covid- gegenüber den Nicht-Covid-Patienten hat nicht stattgefunden und auch über die legitimen Interessen der solcherart zurückgestellten Patienten spricht kaum jemand."

Finanziell gesehen war das Corona-Jahr 2020 für die meisten Kliniken ein äußerst gutes Jahr. Stefanie Stoff-Ahnis vom Vorstand des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenkassen spricht sogar vom "goldenen Jahr der Krankenhausfinanzierung". Während die Behandlungsfälle um 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgingen, stiegen die Erlöse für die Kliniken um 15 Prozent, oder in nackten Zahlen: Im Jahr 2020 flossen in die Kliniken 12,2 Milliarden Euro mehr als im Jahr 2019. "Viele Maßnahmen waren effektiv, aber nicht effizient", sagt Stoff-Ahnis. So hätten in der erste Welle alle möglichen Kliniken große Summen als Freihaltepauschalen erhalten, darunter auch solche spezialisierten Häuser wie reine Augenkliniken, die niemals einen Covid-Patienten behandelt hätten.  Der Gesundheitssystemforscher Reinhard Busse von der TU Berlin berichtet zudem von einem Krankenhaus im Osten Deutschlands, dessen geplante Schließung um mehrere Monate verschoben worden sei. Er vermutet, dass die Pauschalen dabei auch eine Rolle gespielt haben könnten. Diese seien "eine sehr großzügige Regelung" gewesen, so Busse. Sie seien nicht einmal an das Vorhandensein von Personal gekoppelt worden. Busse sagte, er habe vor der Neuauflage der Regelung im November für eine andere Regelung plädiert. "Ich halte das Bezahlen von leeren Betten grundsätzlich für schwierig. Ich würde lieber jenen Krankenhäusern Geld geben, die gegenüber dem Vorjahr zusätzliche Patienten haben."