Als im Frühjahr 2020 in ganz Deutschland Corona-Schutzmasken fehlten, entschied sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn für ein Beschaffungsmodell im großen Stil. Im sogenannten Open-House-Verfahren garantierte das Ministerium jeder Firma, die FFP2-, KN95-, oder N95-Masken bis spätestens 30. April 2020 liefern würde, einen Erstattungspreis von 4,50 Euro pro Maske.
Ein guter Preis für die Unternehmer, ein unbürokratisches, effizientes Verfahren sollte es sein. Tatsächlich wurden 738 Zuschläge erteilt für insgesamt rund eine Milliarde Masken. Im Mai waren die Lager voll. Ein Jahr später jedoch gibt die Beschaffungsstrategie des Gesundheitsministeriums (BMG) ein etwas anderes Bild ab. Das Open-House-Verfahren hat eine immense Zahl an juristischen Auseinandersetzungen nach sich gezogen. Allein 89 Klagen wurden beim Landgericht Bonn eingereicht. Davon sind noch knapp 70 rechtsanhängig - mit einem Streitwert von etwa 206 Millionen Euro. Die Klagewelle bedeutet erhebliche zusätzliche Kosten für das BMG.
Auf bisher rund zehn Millionen Euro beläuft sich die Summe, die dem BMG allein durch Anwalts- und Verfahrenskosten der Kläger sowie für Zinszahlungen, die aufgrund verspätet beglichener Rechnungen geleistet werden mussten, entstanden ist. Hinzu kommt ein niedriger zweistelliger Millionenbetrag für externen Rechtsbeistand für das BMG selbst, das sich zum Beispiel von den Anwälten von EY Law und anderen Kanzleien vertreten lässt. Insgesamt also mehr als 20 Millionen Euro. Viele der Lieferanten aus dem Open-House-Verfahren warten heute noch auf ihr Geld. Einer davon ist Dirk Schmidt, der sich mit dem BMG um 300.000 Euro streitet. Dabei habe er nur helfen wollen, sagt Schmidt: "Ich sah das als meine Bürgerpflicht an." Hätte er gewusst, wie das ausgeht - vielleicht hätte er es sich anders überlegt. Schon im März war der Unternehmer mit seiner Firma Malgrado Fashion & Promotion GmbH in den Import von Schutzkleidung eingestiegen und hatte diese an Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen verkauft. Netto berechnete er pro Stück zwischen 1,65 und 1,95 Euro. Ein Preis, der damals bei den schnell gestiegenen Kosten für Masken als sehr moderat angesehen wurde.
Als Schmidt von der Open-House-Ausschreibung erfuhr und den 4,50 Euro, die das BMG festgesetzt hatte, schickte er sofort eine Mail an das Ministerium. "Ich habe geschrieben, dass sie für die Summe zwei Masken bekommen", sagt er. Die Rückmeldung aus Berlin lautete: Der Preis sei mit Veröffentlichung der Ausschreibung festgesetzt und lasse sich aus Verfahrensgründen nicht mehr verändern. Schmidt rechnete aus, wie viele Masken er aus eigenen Mitteln liefern könnte und machte ein Angebot für 180.000 Masken. Andere Unternehmer boten Millionen von Masken. Schmidt lieferte seine Masken in drei Chargen. Und dann erlebte er, was viele der Lieferanten bis heute enttäuscht und verärgert: Der Bund zahlte nicht oder nur teilweise. Von Schmidts Masken wurden 65.000 für schlecht befunden. "Wir bekamen aber gar kein Prüfergebnis mitgeteilt." Erst nachdem Schmidt im Juli einen Anwalt eingeschaltet hatte, kamen diese. "Die Ergebnisse waren lächerlich", sagt der Unternehmer. Sein Anwalt Wulf Viola von der WPV Rechtsanwaltsgesellschaft erklärt, es seien Dinge gerügt worden, die von der Norm für Masken gar nicht vorgesehen seien. In den Schriftsätzen zwischen seinen Anwälten und EY wird ausführlich und in vielen Details um die Prüfungsmethoden für Masken und andere Klauseln aus den OHV-Verträgen hin und her argumentiert. Schmidt ist sicher, dass er im Recht ist - und er ist bereit, durch alle Instanzen zu gehen.
Das Open-House-Verfahren hatte damals seriöse Lieferanten, aber auch Glücksritter auf den Plan gerufen, die noch nie mit Schutzmaterial gehandelt hatten und die möglicherweise auch minderwertige Ware lieferten. Dennoch halten viele der Lieferanten und Anwälte, die mit den Verfahren vor dem Landgericht Bonn befasst sind, die Qualitätsrügen seitens des BMG und der vom Hause Spahn beauftragten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY für vorgeschoben. Irgendwann habe man gemerkt, dass viel zu viele Masken zu den hohen Preisen bestellt worden seien - und so versuche das BMG, sich aus der Affäre zu winden, vermuten sie. Schmidt sagt, dass deshalb auch sein Vergleichsangebot von EY abgelehnt worden sei. Er hatte, wie viele andere Unternehmer, angeboten, einfach noch einmal kostenlos 65.000 Masken zu liefern, ohne Aufpreis und nach den aktuellsten Bestimmungen für FFP2-Masken. In einem anderen Fall lieferte eine Münchner Firma 2,1 Millionen Masken. Nach mehreren Monaten erhielt sie die Nachricht, 500.000 davon seien mangelhaft. Und da die Lieferung ja zu einem Fixtermin vereinbart worden sei, dürfe nicht nachgeliefert werden, das BMG trete vom Vertrag zurück. Andere Unternehmen hätten aber sehr wohl nachliefern können, etwa, wenn sie politische Kontakte bemühten, sagen die Lieferanten. Und das sorge für Unmut unter den Lieferanten, die sich heute in einem regen Austausch in mehreren WhatsApp-Gruppen befinden. Allen Beteiligten ist klar, dass vor einem Jahr eine absolute Ausnahmesituation herrschte. "Aber wenn ich sehe, wie das Geld teilweise aus dem Fenster geschmissen wird, während man uns am langen Arm verhungern lässt, empfinde ich tiefes Unrecht", sagt Schmidt.
Das BMG weist die Vorwürfe der Firmen von sich. Wenn Masken nicht angenommen worden seien, hätten diese entweder Mängel aufgewiesen oder seien nicht rechtzeitig avisiert und vertragsgerecht geliefert worden. Auf konkrete Fragen zu einzelnen Fällen äußert sich das Ministerium allerdings nicht. Zu "noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren" oder Einzelfällen "nimmt das BMG keine Stellung", lautet die Antwort auf einen Fragenkatalog von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ). Dennoch zeichnen interne Unterlagen, die WDR, NDR und SZ einsehen konnten, eine chaotische Lage. Die Firma Zentrada zum Beispiel, nach eigenen Angaben Europas größte Beschaffungsplattform für Konsumgüter, lieferte im vergangenen Jahr Corona-Masken nach Frankreich, Spanien, Polen, Dänemark und Norwegen. Aber so schlechte Erfahrungen wie mit dem Gesundheitsministerium von Spahn hätten sie nirgendwo gemacht, sagt Mario Werner von Zentrada. Werner lieferte April 2020 im Open-House-Verfahren 200.000 KN95-Masken an den Bund. "Im Vergleich zu den anderen Masken-Geschäften in diesem Zeitraum war das keine große Menge", sagt Werner. "Aber wir wussten nach Rücksprache mit unseren Lieferanten, dass wir diese Menge garantieren und pünktlich abliefern konnten."
Laut dem Open-House-Vertrag sollte der Bund exakt sieben Tage nach Lieferung der Masken bezahlen, so stand es in der Ausschreibung. Die Masken sollten sofort auf Einhaltung der Ausschreibungsvorgaben geprüft werden - und bei unzureichenden Ergebnissen sofort zurück gesendet werden. "Stattdessen kamen aber, nach diversen Nachfragen unsererseits, erst nach vier Wochen die ersten Testergebnisse." Werner wollte nicht glauben, dass die KN95-Masken nicht den geforderten Kriterien entsprachen und machte sich persönlich auf, um in einem der Zentrallager, in dem das BMG die Masken sammelte, bei einer erneuten Ziehung einer Probe dabei zu sein. "Vor Ort war das reine Chaos", erinnert sich Werner. "Wir konnten nachweisen, dass die angeblich fehlerhaften Maske gar nicht von uns stammten." Belegen ließe sich dies durch Fotos, die zeigten, dass die Stanzung der Maske eine ganz andere war. Als Zentrada dazu eine Klageschrift eingereicht hat, erklärte sich der Bund plötzlich bereit, die Hälfte der ausstehenden Summe zu bezahlen. Über den Rest streitet sich Zentrada aber bis heute, wie viele andere Unternehmer, vor dem Landgericht Bonn mit dem Spahn-Ministerium. "Ich vermute, dass der Bund nach Abschluss des Open-House-Verfahrens festgestellt hat, dass die Menge der gelieferten Masken ihr Budget deutlich übersteigt. Und dann wurde alles getan, um mit angeblichen, vorgeschobenen Mängeln die Rechnung nicht bezahlen zu müssen." Werner ist sehr enttäuscht über das Verhalten des Ministeriums: "Wenn ich mich nicht mehr darauf verlassen kann, dass die Regierung ihre Zusagen einhält - worauf soll ich mich denn dann noch verlassen?"
In einem anderen Fall hat das Landgericht Bonn ein erstes sogenanntes Vorbehaltsurteil im Urkundsverfahren verkündet. Auch dieses Urteil lässt kein gutes Haar an den Zuständen in den Lagern des BMG. Im Urkundsverfahren ist als Beweismittel nur Schriftliches zulässig, und es ist insofern als vorläufig zu betrachten, weil es vermutlich zu einem Nachverfahren - mit Zeugen und Sachverständigen - kommt. Darin hat das Landgericht Bonn den Bund zu einer Zahlung von 1.741.118 Euro an einen Münchner Maskenlieferanten verurteilt. Das Gericht rügt deutlich die Prüfverfahren, die für die Masken angewendet wurden, so seien etwa die einzelnen Schritte des Prüfverfahrens nicht aufgelistet und daher nicht nachvollziehbar. Außerdem hätten die Prüfberichte der Ware teilweise gar nicht mehr zugeordnet werden können. "So führen die Prüfberichte bereits den Lieferantennamen der Klägerin nicht auf", heißt es im Urteil. Stattdessen sei dort unter "Manufacturer/Supplier" ein "unknown" oder "no information" vermerkt. Das Urteil zeigt auch, dass die Kommunikation seitens des BMG und der dafür beauftragten Beratungsfirma EY offenbar sehr schleppend gelaufen ist. Teilweise seien E-Mails nicht versendet worden, weil die Dateianhänge zu groß waren, dies wurde aber erst Wochen später bemerkt.