Warum die EU-Verhandlungen um Impfstoff stockten

Die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten war nur "sehr wenig interessiert" an den modernen Corona-Impfstoffen der Firmen BioNTech und Moderna. Sie bevorzugten zunächst Impfstoffe, die auf die traditionelle Weise hergestellt wurden und nicht mithilfe der neuartigen mRNA-Technologie. Das geht aus vertraulichen Unterlagen der EU-Kommission hervor, die NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) einsehen konnten.

Demnach sei anfangs auch nur "eine kleine Minderheit der Mitgliedsstaaten am möglichen Kauf des BioNTech-Impfstoffs interessiert" gewesen. Einer der Gründe sei die aufwendige Kühlung gewesen, die für diesen Impfstoff nötig ist. Zudem seien wissenschaftliche Experten, die die EU-Kommission beraten hätten, noch Ende Oktober "sehr skeptisch" gegenüber allen mRNA-Impfstoffen gewesen. Ein weiteres Argument sei auch der im Vergleich zu AstraZeneca hohe Preis der mRNA-Vakzine gewesen, wie aus dem Berliner Gesundheitsministerium zu hören ist. 

Hätte die EU mehr Impfstoffe gegen das Coronavirus bestellen können? Das Problem liegt weniger in Brüssel.

Steuerungsgruppe im Sommer eingerichtet Das Ministerium war über die laufenden Verhandlungen auf EU-Ebene im Sommer und Herbst nicht nur bestens informiert, sondern auch direkt eingebunden. So nahm nach Recherchen von NDR, WDR und SZ ein Abteilungsleiter aus dem Ressort mehrfach direkt an den EU-Verhandlungen mit den Pharmafirmen teil. Zu den Aufgaben dieses ausgewiesenen Fachmanns für Arzneimittel gehörte es auch, Gesundheitsminister Jens Spahn auf dem Laufenden zu halten.  Mitte Juni schuf die EU-Kommission den organisatorischen Rahmen für die Impfstoffbeschaffung. Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides richtete dazu eine Steuerungsgruppe ("Steering Board") mit Vertretern aus allen 27 Mitgliedsstaaten ein. Den Vorsitz übernahm die Italienerin Sandra Gallina, die für die EU bereits das schwierige Handelsabkommen mit dem südamerikanischen Wirtschaftsblock Mercosur unter Dach und Fach gebracht hatte. Co-Vorsitzender wurde der Österreicher Clemens Auer. 

Welche Rolle spielten die Ländervertreter? Als sich die Steuerungsgruppe am 18. Juni zu ihrer ersten Sitzung traf, legte sie auch fest, wer die Verhandlungen mit den Pharmafirmen führen sollte. Laut dem unveröffentlichten Protokoll der Sitzung wurde ein Verhandlungsteam ("Joint Negotiation Team") gebildet, dem neben Beamten aus der Kommission auch Abgesandte aus sieben Ländern angehörten, darunter der Abteilungsleiter aus Spahns Ministerium. Das Team verhandelte in unterschiedlicher Besetzung mit den Pharmafirmen. Ging es zum Beispiel um Gespräche mit den deutschen Firmen BioNTech und CureVac, saß auch der Vertreter aus Berlin mit am Tisch.  Im Gesundheitsministerium hängt man die Rolle des eigenen Abteilungsleiters tief und verweist auf ein EU-Dokument vom 18. Juni, in dem es heißt, dass die EU-Kommission die "alleinige Verantwortung über den Prozess innehat". Die Ländervertreter hätten "nur Mäuschen spielen" dürfen. Bei der Kommission betont man dagegen, dass man auf die Fachkunde der Expertinnen und Experten aus den Mitgliedsländern auf besondere Weise angewiesen sei und sie eng einbezogen hätte. 

In Brüssel wächst der Unmut über die Lieferschwierigkeiten von BioNtech/Pfizer und AstraZeneca.

Streit um Haftungsrisiken Während sich die Mitglieder der Verhandlungsgruppe ständig per WhatsApp ausgetauscht hätten, wie ein Mitglied berichtet, hatte die Steuerungsgruppe immer freitags von 12 bis 13 Uhr einen festen wöchentlichen Termin, um den aktuellen Stand der Verhandlungen mit den Pharmafirmen zu besprechen.  Der Co-Vorsitzende Auer sagt, dass vor allem die Forderungen der Pharmafirmen, von Haftungsrisiken weitgehend freigestellt zu werden, einen schnellen Abschluss verhindert hätten. "Wir haben angefangen mit BioNTech zu verhandeln, und irgendwann ist die Firma Pfizer dazugekommen, und dann saßen auf einmal amerikanische Anwälte mit am Tisch", erinnert sich Auer. "Das machte es nicht einfacher."

Als diese Forderungen der Industrie bekannt wurden, war die Aufregung groß. Bei einer Anhörung im Europaparlament wurde EU-Verhandlungsführerin Galina gelöchert, wie es mit der Haftung aussehe. Sie versprach, dass die EU die Rechte von Patienten nicht einschränken werde, auch wenn andere Staaten hier "anderen Ansätze" folgten.  Chefverhandlerin weist Vorwürfe zurück Eine der Firmen soll darauf verwiesen haben, dass sie den Impfstoff doch beinahe zum Selbstkostenpreis abgebe. Wenn der Profit so gering sei, müsse dies auch bei der Frage der Höhe einer möglichen Haftung berücksichtigt werden. Ein anderer Hersteller wollte eine Zusage der EU, wenigstens dann für die Anwaltskosten aufzukommen, wenn sich die Klagen als unberechtigt herausstellen. 

Diese Woche wies EU-Chefverhandlerin Galina den Vorwurf zurück, EU-Bürger müssten nun länger warten, weil die Kommission an der falschen Stelle gespart habe oder auf die Einhaltung des geltenden Rechts pochte. Die EU hätte definitiv nicht mehr Dosen erhalten, wenn Europa mehr gezahlt hätte. Schließlich hätten Firmen wie BioNTech oder AstraZeneca schon vor Vertragsabschluss Hunderte Millionen Euro erhalten, auch um die Produktion hochzufahren. Co-Chef Auer sagte, es sei keine Überraschung, dass im ersten Jahresviertel die Impfdosen knapp seien. "Das wussten wir immer. Aber in der Öffentlichkeit sind leider Erwartungen geweckt worden, die zumindest jetzt nicht erfüllbar sind."