Im Jahr 399 vor Christus brachten die Athener ihren klügsten Mitbürger um. Aber was war sein Verbrechen? Er hatte es gewagt, die führenden Experten und Politiker seiner Zeit vorzuführen. Dazu verwickelte er sie in Gespräche, in denen er zeigte, dass sie eigentlich nichts von dem wirklich wissen, was sie zu wissen behaupten. Er tat dies übrigens stets in aller Öffentlichkeit, auf dem Marktplatz von Athen.
Die Talkshow im Fernsehen ist der Marktplatz von heute. Dort treten regelmäßig Politiker*innen und Expert*innen auf, die mit einer großen Gewissheit Aussagen über die Pandemie machen, die sich kurze Zeit später allzu oft als haltlos herausstellen.
Im Oktober zum Beispiel behauptete Gesundheitsminister Jens Spahn, einen Shutdown wie im Frühjahr mit Schließung des Einzelhandels und der Friseure werde es nicht mehr geben. Zwei Monate später kam dann exakt dieser Shutdown.
Selbst Wissenschaftler*innen reden mit einer Selbstverständlichkeit etwa über die Ausbreitung der neuen Mutante, über Schulen als Infektionstreiber, über die Gefährlichkeit von Schlittenfahren, ohne dass sie über diese Dinge auch nur halbwegs zuverlässig Bescheid wissen können.
Man wünscht sich dann, die Moderatorin würde einmal nachfragen: Haben Sie das, was sie gerade sagen, irgendwo gehört, gelesen oder haben Sie das nur geträumt?
Ehrlicher wäre es, zu sagen, dass man auch heute, ein Jahr nach Beginn der Pandemie, viele zentrale Dinge einfach nicht weiß. So wissen wir nicht, wie viele Menschen tatsächlich infiziert sind, weil eben nur ein Teil davon getestet wird. Wir wissen vor allem nicht, welche Personen genau sich infizieren und bei welchen Gelegenheiten sie sich infizieren.
Aus Kliniken hört man immer wieder, dass dort überdurchschnittliche viele Covid-Kranke mit Migrationshintergrund liegen. In den USA ist es ein großes Thema, ob bestimmte Bevölkerungsgruppen von der Pandemie besonders betroffen sind. In Deutschland haben die Gesundheitsministerien dazu null Erkenntnisse.
Dabei ist das keineswegs unwichtig für die Pandemie-Bekämpfung. Denn wenn dem so wäre und wenn man es wüsste, könnte man zum Beispiel viel gezielter Aufklärungskampagnen in bestimmten Stadtteilen und in bestimmten Fremdsprachen starten.
Wir wissen auch nicht, wie effizient die einzelnen Einschränkungen sind, die die Regierung im Shutdown anordnet. Wie groß ist das Risiko, sich beim Einkaufen zu infizieren im Vergleich zum Friseur- oder Museumsbesuch? Wir wissen es nicht.
Wie groß ist das Risiko für Schülerinnen und Schüler, sich im Unterricht zu infizieren? Auch dafür gibt es allenfalls Anhaltspunkte. Doch dieses Nicht-Wissen hat dramatische Folgen, weil es dazu führt, dass wir alles zuschließen müssen. Die Maßnahmen sind unspezifisch und richten damit auch Schaden an, der gar nicht nötig wäre.
Denn man könnte diese Fragen in Studien klären. Nur gibt es niemanden in der Regierung, der sich verantwortlich fühlt, dass fundierte Antworten auf diese Fragen gefunden werden.
Dabei haben die meisten Menschen Verständnis dafür, wenn man zugibt, dass man etwas nicht weiß. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und die Charité haben im Sommer mehr als 2000 Männer und Frauen befragt, wie sie über die Corona-Lage informiert werden möchten. Die größte Zustimmung gab es für jene Position, die die wissenschaftliche Unsicherheit in der Pandemie am deutlichsten darstellte.
Außerdem war die ehrliche Rede auch am besten geeignet, die Menschen davon zu überzeugen, die Maßnahmen zur Eindämmung mitzutragen – gerade auch unter denjenigen, die der ganzen Regierungspolitik skeptisch gegenüberstehen. Der Bluff, so zu tun, als wisse man alles, ist also sogar schädlich.
Ach ja, wer der Athener war, dessen nervige Fragen ihm den Tod brachte, wissen Sie natürlich längst: Es war Sokrates. Jener Philosoph, über den das Orakel von Delphi gesagt hat, er sei deshalb der Klügste unter den Griechen, weil er weiß, dass er nichts weiß.