Gesundheitsministerium vergisst Schwerkranke

Als der Intensivpfleger Jens Matk die Impfverordnung von Gesundheitsminister Jens Spahn durchlas, war er fassungslos, sagt er: "Wir konnten es nicht glauben, wir dachten, wir hätten es einfach überlesen." Aber es stimmte: Das Gesundheitsministerium hat in seiner Impfverordnung eine ganze Reihe von schwerkranken Hochrisikopatienten einfach nicht erwähnt.

Matk selbst betreut seit Jahren vor allem Patienten mit ALS. Dabei handelt es sich um eine fortschreitende Muskelerkrankung, die meist innerhalb von wenigen Jahren dazu führt, dass die Betroffenen künstlich beatmet werden müssen. Jeder Atemwegsinfekt bedeutet für diese Menschen eine enorme Lebensgefahr. Doch in der Corona-Impfverordnung sucht man sie vergebens. Dort sind in der dritten Impfkategorie nur zehn andere Krankheitsbilder beschrieben. Selbst Polizistinnen und Polizisten, Lehrerinnen und Lehrer oder Verkäuferinnen und Verkäufer jeden Alters kommen schneller zu einer Impfung als ALS-Patienten und anderer Schwerstkranke.

Impfempfehlungen seit Wochen geändert Die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut (STIKO) hat diesen Fehler bereits am 8. Januar versucht zu korrigieren, indem sie ihre Impfempfehlungen überarbeitete. Seitdem heißt es dort, dass bei der Priorisierung "nicht alle Krankheitsbilder oder Impfindikationen berücksichtigt werden können". Deshalb sollen "Einzelfallentscheidungen" möglich sein. Personen mit seltenen, schweren Vorerkrankungen sollen "in die jeweilige Priorisierungskategorie" eingeordnet werden. Doch bis heute hat Spahns Gesundheitsministerium keine Konsequenzen gezogen und diese Änderung ignoriert. Dabei ist nicht entscheidend, was die STIKO schreibt, sondern welche Verordnungen das Ministerium daraus macht. Gesundheitsminister wollen Abhilfe schaffen Nach Informationen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) will Gesundheitsminister Spahn jetzt aber in einer Schaltkonferenz am Samstag über Änderungen bei der Impfverordnung sprechen, wobei es einerseits um den neuen Impfstoff von AstraZeneca gehen soll, aber offenbar auch um Einzelfallentscheidungen für Schwerkranke, die bisher vergessen wurden. Neben ALS-Patienten fallen bisher auch Querschnittsgelähmte oder solche mit Muskeldystrophien ebenso durch das Impfraster wie deren Betreuer. Constantin Grosch vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke ist darüber empört: "Was uns als Betroffene sehr umtreibt, ist, dass wir bei einer möglichen Triage nicht mehr behandelt werden, weil unsere Behandlungschancen schlecht sind. Aber gleichzeitig bekommen wir auch den Impfstoff nicht. Das ist schon ein bisschen zynisch."

Zwischenlösungen in mehreren Bundesländern Bundesweit gibt es bereits mehrere Ausnahmen, wo Betroffenen mit juristischer Hilfe doch noch ihre Impfung bekommen haben. Die Stadt Hamburg hat eine E-Mail-Adresse für Rechtsanwälte eingerichtet, die Anträge für eine vorzeitige Corona-Impfung einreichen wollen. In Hessen wiederum verweist das Gesundheitsamt Betroffene an das Land, und das Land verweist sie zurück ans Gesundheitsamt. "Wir werden im Kreis geschickt", sagt die Mutter des 32-jährigen Nico Schumann, der an einer fortschreitenden Muskelerkrankung leidet. Besonders hohe Gefährdung in Heimen Sehr unterschiedlich ist auch der Umgang der Bundesländer in der Frage, wer vor Ort zuerst die Impfdosen bekommt. Die STIKO hat in der Gruppe derjenigen, die die Impfung am dringendsten benötigen, insgesamt 8,6 Millionen Männer und Frauen einsortiert. Darunter sind - neben den Bewohnerinnen und Bewohnern von Seniorenheimen - auch medizinisches Personal, Pflegepersonal und alle Menschen über 80 Jahren.

Innerhalb dieser Gruppe seien die Über-80-Jährigen und die Bewohner von Pflegeheimen aber besonders gefährdet und sollten deshalb zuerst geimpft werden. Schließlich ereigneten sich 46 Prozent alles Covid-Todesfälle in Europa in Pflegeheimen. Und das Risiko, sich mit Corona zu infizieren und daran zu sterben, ist für einen 80-Jährigen 13-mal höher, wenn er in einem Pflegeheim wohnt statt in einer Privatwohnung. Länder uneinig bei Strategie Doch die Länder halten sich nur wenig an diese Reihenfolge, wie eine Auswertung der aktuellen Impfungen durch NDR, WDR und SZ ergibt. So wurden bisher bundesweit nur 29 Prozent aller Impfdosen in Pflegeheimen verimpft, 41 Prozent dagegen an medizinisches Personal. Auch zwischen den Ländern gibt es enorme Unterschiede: Während in Nordrhein-Westfalen immerhin 47 Prozent aller Impfdosen in Pflegeheime gingen, waren es in Baden-Württemberg nur 17 Prozent. Die meisten Dosen, 51 Prozent, gingen hier allerdings an Seniorinnen und Senioren außerhalb von Heimen. Während vielerorts Menschen sehnsüchtig auf den Impfstoff warten, wurden in Bayern nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums schon mehr als 1100 Dosen weggeschmissen wegen falscher Lagerung oder mangelhaftem Transport. Vorgehen oft intransparent In vielen Gegenden ist es zudem intransparent, wie die Auswahl für den Impfstoff erfolgt. So teilt das Sozialministerium in Sachsen auf Anfrage mit, dass die drei Unikliniken in Dresden, Leipzig und Chemnitz jeweils 12.675 Impfdosen erhalten haben, die sie "in eigener Zuständigkeit an die Krankenhäuser verteilen" können. Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern räumen ein, dass in Einzelfällen medizinisches Personal geimpft worden sei, "das nicht der höchsten Priorität angehört". Man habe keine Impfdosen wegschmeißen wollen. Die Feuerwehr in Hamburg und das Deutsche Rote Kreuz in Harburg impfte kürzlich seine Führungskräfte mit Restbeständen, obwohl diese nur in Büros arbeiten.

Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) wurde am Mittwoch im Landtag unterdessen deutlich: "Da gibt es auch Krankenhäuser, die das gesamte Personal geimpft haben, obwohl das nicht der Priorisierung entspricht und eigentlich unsolidarisch ist." Das Sozialministerium im Saarland teilt mit, dass die "Krankenhäuser und Einrichtungen selbst entscheiden, bei welchen Mitarbeitern die Voraussetzungen der höchsten Priorisierung gegeben sind." Auch Rheinland-Pfalz teilt mit, dass die Impfungen bei Klinikmitarbeitern "in Eigenverantwortung der Krankenhäuser erfolgt." Flexibles Vorgehen möglich In Nordrhein-Westfalen hat sich der Lungenfacharzt und Beatmungsmediziner Hakim Bayarassou freiwillig gemeldet, um in einem mobilen Impfteam alte und schwerkranke Menschen in Pflegeheimen zu impfen. Den Impfstoff selbst bringe die Polizei oder die Bundeswehr in die Einrichtungen. Er ziehe dann die Spritzen auf und verimpfe den Stoff. Von den mehr als 200 Impfungen, die er inzwischen verabreicht habe, seien 42 an Patienten gegangen, der Rest ans Pflegepersonal. Wenn am Ende des Tages etwas übrig bleibe, dürfe er das aber nicht einfach an andere verimpfen, sagt Bayarassou, sondern müsse die Feuerwehrleitstelle informieren. Die schicke in der Regel Rettungsdienstpersonal, an das er dann die restlichen Dosen verimpfe. Seit Bayarassou zu einem mobilen Impfteam gehöre, höre er ständig aus seinem Freundeskreis: "Gib mir Bescheid, wenn am Abend noch was übrig ist, ich setze mich dann ins Auto und komme sofort." So etwas, sagt der Arzt, habe er bisher noch nie erlebt.