Schleppende Suche nach Mutanten

Als Gesundheitsminister Jens Spahn Mitte Januar die neue Verordnung zur molekularen Überwachung des Coronavirus vorstellte, räumt er ein, dass bisher viel zu wenig derartige Analysen gemacht wurden. Künftig sollen deshalb "mindestens fünf Prozent aller Positiv-Testungen genomsequenziert werden", erklärte Spahn.  Diesem Anspruch haben die Labore bisher bei weitem nicht genügt, wie Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" zeigen. In der vergangenen Woche gab es nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) mehr als 101.000 positive Corona-Tests. Fünf Prozent wären demnach 5000 Sequenzierungen. Tatsächlich wurden aber nur 745 neue Sequenzen der Datenbank hinzugefügt, also 0,7 Prozent, wie das RKI auf Anfrage mitteilte. "Die Datenbasis wächst nun fortlaufend an", verspricht das RKI. Die 745 Sequenzen stammen zudem aus Proben, die seit Beginn der Pandemie bis 14. Januar 2021 entnommen wurden, wie das Institut auf Nachfrage einräumte. Wie viele davon wirklich neu sind, ist unklar. 

Bisher wurden Corona-Proben in deutschen Laboren nur selten auf mögliche neue Virus-Varianten geprüft.

Ruf an den Minister verhallte In den analysierten Proben fanden sich in zwei Prozent der Fälle die als ansteckender geltende sogenannte britische Mutante B.1.1.7 und in 0,5 Prozent der Fälle die südafrikanische Linie B.1.351. Die Mutante aus Brasilien wurde in keiner der Proben entdeckt.  In dieser Woche dürften deutlich mehr Fälle der britischen Mutante hinzukommen. So meldete das Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald heute, dass in einer Kita in Freiburg bei 18 Personen Corona-Mutationen entdeckt wurden.  Der Freiburger Virologe Hartmut Hengel hatte als Präsident der Gesellschaft für Virologie bereits im November 2019 einen dringenden Brief an Gesundheitsminister Spahn geschrieben mit der Bitte, er möge sich um die molekulare Überwachung der Krankheitserreger kümmern. Doch im Ministerium verhallte der Ruf ungehört.

In Deutschland ist kaum bekannt, wie verbreitet Corona-Mutationen sind. Fachleute hatten davor gewarnt.

"Kein Verlass auf Großlabore" Nach Angaben von Hengel kostet eine Sequenzierung 100 bis 150 Euro. Der Virologe Hendrik Streeck spricht sogar von nur 50 Euro. Gesundheitsminister Spahn will den Laboren aber 220 Euro pro Sequenzierung bezahlen. "Da man in der Vergangenheit keine Strukturen geschaffen hat, muss man das jetzt mit Geld kompensieren", kritisiert Virologe Hengel. Aber es sei richtig, dass man jetzt überhaupt Anreize schaffe, damit die Überwachung in Bewegung komme. Auf Dauer sollte man sich aber nicht auf die Großlabore verlassen. "Das sind kommerziell orientierte Labore, das heißt, wenn das Geld nicht mehr so fließt, dann machen die nichts mehr." Auf Nachhaltigkeit hofft auch Manja Marz, Leiterin der Fachgruppe Bioinformatik und Sequenzierexpertin an der Universität Jena: Sie betont, dass führende Virologen auf nationaler und internationaler Ebene seit Jahren für mehr Genomsequenzierung werben. "Damals hat uns niemand zugehört", sagt Marz. Selbst verheerende Ausbrüche wie der von Ebola in Westafrika hätten nicht grundsätzlich etwas an dieser Einstellung geändert. "Wir sollten schon vor der nächsten Pandemie einen Plan davon haben, was uns alles erwarten kann. Dabei wird die Erbgutanalyse entscheidend helfen."

Vor allem der wohl deutlich höhere R-Wert der Corona-Mutationen bereitet Wissenschaftlern große Sorgen.

"Vorgehensweise unklar" Virologe Hengel rechnet damit, dass das Coronavirus in Mutationen erhalten bleibt. Von daher sollten, ähnlich wie bei der Überwachung von Influenza-Viren "stabile Strukturen der Überwachung" geschaffen werden. Bei Influenza geschieht dies über ein bundesweites Netz von Hausarztpraxen, die Proben einschicken. Der Vorteil sei, dass man auf diese Weise alle Teile Deutschlands erfassen und abdecken könnte. Kritik an der Verordnung des Gesundheitsministeriums kommt auch von anderen Wissenschaftlern. So kritisiert der Leiter des Instituts für Virologie an der Universität Düsseldorf, Jörg Timm, es sei "nicht klar, nach welcher Vorgehensweise die fünf Prozent der positiven Tests ausgewählt werden sollen". In den Laboren könnte "eine Vorauswahl stattfinden, die ein repräsentatives Bild beeinträchtigen". Timm sieht auch die Gefahr, dass die Daten "beim RKI gesammelt werden, aber darüber hinaus der Wissenschaft für die Auswertung nicht mehr zugänglich sind". Eine RKI-Sprecherin versichert dagegen auf Anfrage, dass die Daten über die Datenbank GISAID "der nationalen und internationalen Forschungsgemeinschaft für weitere Analysen zur Verfügung gestellt werden".  Behörden unterließen weitere Analysen In Großbritannien werden derzeit zwischen 10.000 und 20.000 positive Coronaproben pro Woche sequenziert, wie Sharon Peacock vom Beratergremium der Regierung "Covid-19 Genomics UK" erklärt. Alle diese Genome werden in der offenen Datenbank GISAID hinterlegt. Großbritannien ist führend in der molekularen Überwachung des Coronavirus und verspreche sich durch die Analysen, "die Muster der SarsCoV2-Übertragung in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Universitäten und am Arbeitsplatz" zu verstehen. Damit, so Peacock, wolle man "ein höher aufgelöstes Bild der Bewegung" des Virus erstellen. 

Trotz des Weckrufs aus England gehen hiesige Behörden immer noch erstaunlich nachlässig mit den molekularen Überwachungsmöglichkeiten um. Als am 11. Januar erstmals in Deutschland ein Mann im Kreis Freudenstadt nach einer erneuten Infektion mit Sars-CoV-2 starb, gingen die Behörden nicht der Frage nach, welches Virus ihn genau das Leben gekostet hatte. Dabei ist genau in diesem Landkreis Deutschlands erster B.1.1.7-Fall nachgewiesen worden