In Großbritannien wird seit Wochen ein verändertes Coronavirus beobachtet, das sich offenbar deutlich schneller ausbreitet als die bisherigen Varianten. So tragen im Großraum London bereits die meisten Neuinfizierten diese Variante in sich. Die Briten können das genau beobachten, weil sie umfangreich die Veränderungen des Coronavirus überwachen. So wird etwa jeder 15. positive Corona-Test einer so genannten Genom-Sequenzierung unterzogen. Das ist eine Analysemethode, die es ermöglicht, Veränderungen im Bauplan des Virus zu entdecken.
In Deutschland wurde im Vergleich nur knapp jeder 900. positive Corona-Test entsprechend analysiert. Die Folge: Deutschland weiß bis heute nicht, in welchem Ausmaß sich die neue Corona-Mutation auch hierzulande bereits verbreitet hat, weil die entsprechende Überwachung nur äußerst lückenhaft stattfindet. Die europäische Seuchenbehörde ECDC rät dringend dazu, jetzt mehr zu sequenzieren, um die Ausbreitung der neuen Mutation zu kontrollieren und damit verlangsamen zu können
Während in Großbritannien bereits mehrere tausend Fälle der neuen Mutation dokumentiert sind, sind es in Deutschland nach Angaben des Robert Koch-Instituts vier. "Wir sind in Deutschland, was die molekulare Überwachung des Coronavirus angeht, wirklich miserabel", sagt der Leiter der Virologie der Universität Freiburg, Hartmut Hengel: "Wir sequenzieren ohne repräsentative Probenerfassung auf dem Niveau eines Entwicklungslandes." Wäre die neue Mutation in Deutschland ausgebrochen, hätte seiner Ansicht nach viel Zeit vergehen können, ohne dass sie bemerkt worden wäre.
Dabei hatten Fachleute schon vor der Pandemie gewarnt. Bereits am 19. November 2019, zwei Monate vor Ausbruch der Pandemie, wandte sich die Gesellschaft für Virologie gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie in einem dringenden Schreiben an Gesundheitsminister Jens Spahn.
Der Brief liegt NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" vor. Darin heißt es: Ein "ministerielles Eingreifen" von Jens Spahn sei "unausweichlich geworden". Die Virologen und Mikrobiologen warnten den Gesundheitsminister, dass "ein beträchtlicher Teil der aktuell berufenen Expertenlabore seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann". Bei einem Ausbruchsgeschehen fehlten deshalb "die Möglichkeiten der molekularen Surveillance", also der Überwachung mittels eines genetischen Fingerabdrucks.
Nach Informationen von NDR, WDR und SZ hat Spahn bis heute, also mehr als ein Jahr später, der Gesellschaft für Virologie nicht geantwortet. Der Sprecher des Gesundheitsministerium teilte indes mit, man habe der Gesellschaft für Hygiene geantwortet. Ein Treffen mit den Fachgesellschaften habe bisher nicht stattgefunden, sei aber "weiterhin geplant". Der Präsident der Gesellschaft für Hygiene, Prof. Georg Häcker, wollte sich auf Anfrage nicht zu dem Fall äußern.
Heutzutage wird zwar an vielen Universitäten sequenziert, allerdings nur in bescheidenem Ausmaß, weil die Arbeit nicht finanziert werde, heißt es in dem Brief weiter: "Die finanzielle Ausstattung vieler Nationaler Referenzzentren und Konsiliarlabore durch das Bundesgesundheitsministerium ist seit vielen Jahren völlig unzureichend, intransparent und erfolgt auf stereotype Weise durch Pauschalbeträge". Notwendige Untersuchungen könnten "nicht abgerechnet werden und unterbleiben daher in vielen Fällen".
Hartmut Hengel, der als damaliger Präsident der Gesellschaft für Virologie den Brief unterzeichnet hatte, macht an der Universität Freiburg selbst Genomsequenzierung, "aber nur auf Sparflamme", wie er sagt. Würde man den Universitäten allerdings die Kosten von etwa 100 bis 150 Euro pro Sequenzierung erstatten, könnte Deutschland auch schnell eine bessere Kontrolle über die Mutationen bekommen.
Bei anderen Erregern funktioniere das auch. So werden seit Jahren zum Beispiel Influenzaviren oder Masernviren in Deutschland überwacht. Nur bei Coronaviren habe das keiner angestoßen. Das Konsiliarlabor von Christian Drosten an der Charité sei mit dieser Aufgabe überlastet und müsse daher zu einem Nationalen Referenzzentrum ausgebaut werden, sagt Hengel. Es sei dringend an der Zeit, "dass Herr Spahn die molekulare Surveillance in Deutschland ans Laufen bringt".
Tatsächlich war das Jahresbudget des Berliner Konsiliarlabors in Höhe von 10.000 Euro schon Ende Januar 2020 aufgebraucht, wie Drosten auf Anfrage mitteilt. Er stimme daher mit Forderungen nach einer besseren Aufstellung der molekularen Überwachung von Viren überein. "Die Zeiten in der Mikrobiologie haben sich geändert, es muss heute viel mehr sequenziert werden, was teuer ist, und dazu müsste die finanzielle Ausstattung der Konsiliar- und Referenzlabore beträchtlich erhöht werden", schreibt Drosten per E-Mail.
Allerdings plädiert er für ein kleines Netzwerk von Landeslaboren, das diese Aufgaben übernehmen solle. Mit 2000 bis maximal 5000 Sequenzierungen pro Woche könne man die Veränderungen der Coronaviren gut überwachen.
Christian Drosten (Archivbild) | Bildquelle: dpagalerieEs müsse mehr seuquenziert werden, sagt Christian Drosten.Hendrik Streeck, Direktor des Institut für Virologie an der Uniklinik in Bonn | Bildquelle: dpagalerie"Es wäre wichtig, auch andere Viren im Auge zu behalten", sagt Hendrik Streeck.
"Die Dänen und die Engländer machen dieses Virusmonitoring sehr gut", sagt Hendrik Streeck. Der Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn hat mit seinem Diagnostiklabor bisher 143 Sequenzen von Sars-CoV-2 zur deutschen Datenbank beigesteuert. Zuletzt hat er auch nach der neuen Variante geschaut, sie aber kein einziges Mal gefunden. Eine ebenso starke Virenüberwachung wie in Großbritannien ließe sich auch in Deutschland sehr schnell aufsetzen, sagt Streeck. "Wenn wir den Auftrag hätten, jede hundertste oder zehnte Probe zu sequenzieren, dann würden wir das sofort tun." Eine Sequenz schlage, wenn man viel davon macht, mit etwa 50 Euro zu Buche - also genau so viel, wie die Krankenkassen heute für jeden PCR-Test ausgeben.
Streeck hält es für sehr wichtig, neben Coronaviren weitere Viren im Auge zu behalten, um frühzeitig zu erkennen, ob sich neue Varianten bilden. Im ungünstigsten Fall könnten Viren schließlich auch der Diagnostik entgehen: Mutationen könnten dazu führen, dass Viren durch Antigen- oder PCR-Tests nicht mehr erkennbar sind. Auch in solchen Fällen wären Sequenzierungen sehr hilfreich.
Am Dienstag dieser Woche beschlossen Bund und Länder neben weiteren Maßnahmen gegen die Pandemie, dass künftig auch in Deutschland neue Varianten durch verstärkte Sequenzierung schneller entdeckt werden sollten. Das Bundesgesundheitsministerium solle dafür eine Verordnung erlassen.