Jeder Infizierte hat fünf enge Kontaktpersonen

Der August war für die Gesundheitsämter wieder ein anstrengender Monat. Rund 34.000 Menschen wurden auf das neue Coronavirus getestet, mehr als doppelt so viele wie im Juli. Die Labore melden jeden einzelnen positiven Befund an die Gesundheitsämter in den Landkreisen, die dann nicht nur den Betroffenen in häusliche Isolation schicken, sondern auch enge Kontaktpersonen ermitteln und verfolgen müssen.

 

Enge Kontaktpersonen sind nach den Kriterien des Robert Koch-Instituts (RKI) grob gesagt alle, die einem Infizierten, in den Tagen, in denen er ansteckend ist, 15 Minuten lang näher als 1,5 Meter gekommen sind. Diese so genannten "Kontaktpersonen Kategorie 1" werden von den Gesundheitsämtern vorsorglich in Quarantäne geschickt, weil sie bereits infiziert sein könnten, auch ohne Anzeichen einer Erkrankung.

 

Wie viele solche Kontaktpersonen jeder Infizierte in Deutschland im Durchschnitt hat, ist bisher nicht offiziell bekannt, ebenso wenig, wie gut es den Gesundheitsämtern gelingt, diese Kontaktpersonen überhaupt ausfindig zu machen. Das RKI teilt auf Anfrage mit, dass es zu diesen Fragen keine Erkenntnisse habe und auch keine Daten vorlägen.

 

WDR, NDR und "Süddeutsche Zeitung" (SZ) haben deshalb alle 380 Gesundheitsämter in Deutschland gefragt und von 152 Ämtern detaillierte Angaben erhalten. Demnach hatte im August ein Corona-Infizierter im Durchschnitt 4,9 enge Kontaktpersonen. Allerdings unterscheiden sich die Zahlen von Bundesland zu Bundesland erheblich: Während Sachsen im Schnitt 9,8 Kontaktpersonen pro Infiziertem ermittelt hat, liegt der Wert in Baden-Württemberg bei 3,6, in Bayern gar bei 1,7.

 

Noch größere Unterschiede findet man auf Landkreisebene: So hat das Gesundheitsamt des Landkreises Leipzig im August bei jedem Infizierten 25 enge Kontaktpersonen ermittelt und in Quarantäne geschickt, das Gesundheitsamt in Berlin-Charlottenburg bei jedem Infizierten zwischen 10 und 80 Kontaktpersonen, in Tübingen waren es hingegen nur 1,7 Kontaktpersonen pro Infiziertem.

 

Eine Erklärung für die niedrige Zahl hat der Vize-Chef des Gesundheitsamtes in Tübingen, Oliver Piehl, nicht. Ihm komme die Zahl auch niedrig vor, sagt Piehl auf Anfrage, vielleicht liege es an den Urlaubsrückkehrern im August. Denn wenn Menschen frisch infiziert aus dem Ausland kommen, kontaktieren die Gesundheitsämter in der Regel nur Kontaktpersonen in Deutschland.

 

Begegnungen im Ausland, sagt Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, müssten Behörden zwar an das RKI melden. Doch wie oft dies tatsächlich geschehen ist und wie häufig das RKI dann Behörden im Ausland kontaktiert hat, dazu erhebe man keine Daten, teilt das Institut auf Anfrage mit.

 

Teichert sagt, ähnlich wie bei den Gästelisten der Bars und Restaurants komme es auch bei den Aussteigerkarten der Flugzeuge immer wieder vor, dass die Leute statt ihres Namens "Angela Merkel" oder "Superman" vermerken: "Vor allem bei Flugreisenden ist das frustrierend", sagt Teichert. Schließlich führen falsche Angaben dazu, dass die Gesundheitsämter viel Zeit verlieren bei der Recherche der echten Kontaktadressen.

 

Im Zollernalbkreis in Baden-Württemberg hat das Gesundheitsamt unter den 95 Infizierten im August bei 68 überhaupt keine engen Kontaktpersonen registriert. Amtsleiter Günter Gießler sagt, dass das auch daran liegen könne, "dass wir in der Provinz mehr Flächen und weniger Verdichtungsräume haben als in der Großstadt". Es gebe viele ältere Menschen, die allein leben, oder Familien, die sich gegenseitig infizieren und dann auch keine weiteren Kontaktpersonen haben. "Wir fragen die Menschen entsprechend den Kriterien des RKI, aber wenn die sagen, wir haben keine Kontaktpersonen, dann müssen wir das am Ende auch glauben."

 

84,5 Prozent der Gesundheitsämter gaben in ihren Antworten an, dass es ihnen gelungen sei, zu allen Kontaktpersonen Kontakt aufzunehmen. Weitere 14,9 Prozent gaben an, zu "fast allen" Kontakt aufgenommen zu haben. Demnach haben die Gesundheitsämter fast 99 Prozent der Kontaktpersonen ganz oder fast ganz nachverfolgen können. Das ist, verglichen mit anderen Ländern, ein extrem hoher Wert.

 

So hatte der staatliche britische Gesundheitsdienst NHS ein Drittel der Kontaktpersonen von Infizierten in England nicht ermitteln können, wie die britische Zeitung "The Guardian" berichtete. In Frankreich wiederum erklären Experten, dass der derzeit hohe Anstieg an Neuinfektionen auch daran liege, dass es den Behörden nicht gelinge, Kontaktpersonen nachzuverfolgen und dadurch Infektionsketten zu unterbrechen.

 

Große Unterschiede gibt es in Deutschland allerdings hinsichtlich der Transparenz der Gesundheitsämter. So hatten jeweils 60 Prozent der Gesundheitsämter in Schleswig-Holstein, Thüringen, Nordrhein-Westfalen und Saarland die Umfrage beantwortet und ihre Daten mitgeteilt. In Baden-Württemberg und Niedersachsen waren es sogar 70 Prozent der Ämter. In Bayern hingegen nur 2,5 Prozent, das heißt, nur zwei Gesundheitsämter.

 

Mehrere bayerische Ämter hatten dagegen mitgeteilt, die Anfrage würde zentral vom Gesundheitsministerium in München beantwortet. Doch das weigerte sich auch auf Nachfrage, entsprechende Daten zur Verfügung zu stellen. Dabei ist Bayern das Bundesland, das derzeit wieder am meisten von den Corona-Neuinfektionen betroffen ist. Von den zehn Kreisen, die deutschlandweit die meisten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner verzeichnen, liegen vier in Bayern.

 

Doch das dortige Gesundheitsministerium mauert schon seit Monaten mit Auskünften zu den Gesundheitsämtern. So ging bereits am 30. März nach Informationen von WDR, NDR und SZ ein Maulkorberlass an die dortigen Gesundheitsämter. In einem Schreiben aus dem Ministerium wies das Referat 53 die Ämter an, auf Presseanfragen nicht zu antworten, "da diese Umfragen nicht mit uns abgestimmt sind".

 

Auf Anfrage teilte Ministeriumssprecher Thomas Körbel nun mit: "Einen Maulkorberlass gibt und gab es nicht. Selbstverständlich können die Gesundheitsämter Presseanfragen in eigener Zuständigkeit beantworten." Das Ministerium bemühe sich "jedoch wo immer möglich um Entlastung".

 

Die Intransparenz der bayerischen Staatsregierung kritisiert auch der Landtagsabgeordnete Sebastian Körber (FDP). Er selbst habe nur oberflächliche Antworten bekommen auf eine kleine Anfrage, wie gut denn die einzelnen Gesundheitsämter ausgestattet sind für die Kontaktpersonen-Nachverfolgung. "Ich halte es für skandalös, wie die bayerische Staatsregierung die Kontrollrechte von Parlament und Presse missachtet", sagt Körber.

 

Schließlich habe Bayern bis heute höhere Todesfälle pro Einwohner als andere Bundesländer "und ich vermute mal, dass wir im ländlichen Raum schlechter aufgestellt sind als in Ballungszentren". Indem das Gesundheitsministerium aber verhindere, dass die Landkreise darüber Auskunft erteilen, versuche man solche Erkenntnisse zu unterbinden, kritisiert der Abgeordnete.

 

Bis auf Weiteres bleibt Bayern, was die Arbeit der dortigen Gesundheitsämter angeht, jedoch eine Black Box. So ist weder klar, wie viele Kontaktpersonen die Ämter dort pro Infiziertem ermitteln, noch, wie gut sie es schaffen, diese Personen auch tatsächlich zu kontaktieren und in Quarantäne zu schicken. Die beiden Ämter, die aus Bayern geantwortet hatten, Neu-Ulm und Berchtesgadener Land, haben mit durchschnittlich 1,6 jedenfalls eine erstaunlich niedrige Anzahl von Kontaktpersonen pro Infiziertem.