Mit der Schrotflinte auf Virusjagd

Nie zuvor haben sich in Deutschland so viele Menschen auf das Coronavirus testen lassen wie in der vergangenen Woche. Rund eine Million Tests haben die Labore ausgewertet und sie klagen, dass die Kapazitätsgrenze vielerorts überschritten ist. Vor allem die verpflichtenden Tests für Reiserückkehrer haben in den vergangenen Wochen zu einem enormen Anstieg geführt.

Während die Labormediziner also dringend einen sofortigen Kurswechsel fordern, gibt es gleichzeitig Bemühungen, das bisherige Massentesten noch auszuweiten und die Corona-Tests zu steigern. Im Internet wirbt zum Beispiel die "Initiative Wir testen" für eine massive Ausweitung. So könnten Coronatests für alle Schüler einen zweiten Lockdown verhindern.

Die Initiative wirbt auf der Seite dafür, dass "jeder Mensch anlasslos, kostenlos und freiwillig getestet werden kann". Prominente wie der ehemalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) sagen dort beispielsweise: "Testen muss in Zeiten von Corona so normal werden wie Zähneputzen". Betrieben wird die Webseite übrigens von der Firma Centogene GmbH, einem Anbieter von PCR-Coronatests.

Neben der Initiative verlangen auch andere Interessengruppen immer mehr Tests. So forderte der niedersächsische Lehrerverband VBE regelmäßige und kostenlose Corona-Tests für das Schulpersonal. In Deutschland gibt es rund zwölf Millionen Schüler und Lehrer. Würde man alle testen, würde allein diese Gruppe die wöchentlich verfügbaren Corona-Testkapazitäten um das Zehnfache übersteigen.

Mediziner halten das für übertrieben. "Ich kenne niemanden, der das anlasslose Testen aus medizinischer Sicht für sinnvoll erachtet", sagt Michael Müller, Vorstandsvorsitzender der Akkreditierten Labore der Medizin (AML). Die in diesem Verband zusammengeschlossenen Labore bearbeiten nach eigenen Angaben rund 85 Prozent aller Corona-Tests in Deutschland.

In der vergangenen Woche wurden dort 890.000 Corona-Tests durchgeführt. Rechnet man dazu noch die Universitäts- und Krankenhauslabore, die nicht zu ALM gehören, liegt die Gesamtzahl der Corona-Tests in Deutschland inzwischen bei einer Million pro Woche.

"Wir haben inzwischen eine große Zahl an Laboren, die überlastet sind", sagt Labormediziner und ALM-Vorstand, Prof. Dr. Jan Kramer, "und mir graust davor aus ärztlicher Sicht." Denn wenn man jetzt die Zahl der Tests nicht wieder "auf ein vernünftiges Maß" herunterfahre, "dann werden wir im Herbst tatsächlich Probleme bekommen, weil dann die Lager leer sein werden, es wird keine Reagenzien mehr geben und kein ausreichendes Verbrauchsmaterial, um dann medizinisch notwendige Tests durchzuführen." Deshalb müsse man jetzt "Kapazitäten bunkern".

Nach Angaben von Kramer gebe es derzeit bereits einen "Rückstau" von Corona-Tests, die nicht schnell genug bearbeitet werden können. "Am Montag dieser Woche waren 25.000 Tests nicht untersucht, die sonst am Sonntagabend schon fertig gewesen wären." Das sei ein Anstieg gegenüber der Vorwoche um 93 Prozent gewesen.

Gibt es Alternativen neben dem Herunterfahren der anlasslosen Tests? "Es wäre ein Segen, wenn wir neben dem PCR-Verfahren auch Antigen-Tests zur Verfügung hätten", sagt Labormediziner Kramer. Diese Tests messen eine Virusinfektion im gleichen Zeitraum wie der bisher übliche PCR-Test. Sie haben den Nachteil, dass sie möglicherweise nicht ganz so genau sind, dafür sind sie aber deutlich billiger und das Ergebnis liegt oft schon nach 30 Minuten vor.

In einem Beschlussvorschlag, den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Anfang dieser Woche den Gesundheitsministerinnen und -ministern der Bundesländer vorlegte, hieß es, dass "neue, hochqualitative" Antigentests mittlerweile eine "hohe Sensitivität und Spezifität" erreichten. So könnte etwa bei Reiserückkehrern, die weder von einem direkten Kontakt mit Corona-Infizierten berichten können noch Krankheitssymptome zeigen, mit einem Antigen-Test "eine Infektion weitestgehend ausgeschlossen werden". Nur wenn ein solcher Test positiv ausfalle, müssten sich die Betroffenen noch einmal einem PCR-Test unterziehen und sicherheitshalber in Quarantäne.

Das Bundesgesundheitsministerium wolle nun, so heißt es in dem Schreiben, das NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung", vorliegt, gemeinsam mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und mit dem Robert Koch-Institut prüfen, wie es sich mit der Verfügbarkeit, der Qualität und den Einsatzmöglichkeiten der Antigentests verhält – auch als Schnelltests. Mitte September werde man den Ländern dann einen Sachstandbericht vorlegen, heißt es. Die Europäische Zulassungsbehörde EMA listet auf ihrer Webseite bereits zehn solcher Antigen-Tests auf, die ein CE-Kennzeichen haben.

Viele Firmen vertreiben solche Antigentests in Deutschland, Österreich und der Schweiz - auch nach eigenen Angaben der ehemalige "Spiegel TV"-Chef Frank-Thomas Sippel. Sein Test stammt von einer koreanischen Firma, funktioniert mit einem Rachenabstrich und dauert nach Sippels Angaben nur zwölf Minuten, bis er ein Ergebnis liefert.

Nötig sei dazu kein Labor, sondern ein Analysegerät, das etwa so groß ist wie ein Toaster und in der Anschaffung rund 3000 Euro koste. Ein Teststreifen koste dann etwa 24 Euro, sagt Sippel. Aufgestellt werden könnte so ein Gerät nicht nur in Arztpraxen, sondern auch in Schulen oder Firmen. Der Test sei ähnlich genau wie ein PCR-Test, behauptet Sippel.

Doch bisher kann niemand genau wissen, wie zuverlässig die Antigentests sind. Denn die Tests sind Medizinprodukte niedriger Risikoklassen und brauchen deshalb keine Zulassung, wie Maik Pommer vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erklärt. Vor dem Verkauf brauchen die Firmen lediglich ein CE-Zeichen, doch dies können sie sich selbst ausstellen.

Ivo Steinmetz von der Medizinischen Universität Graz in Österreich, der vor kurzem auch bei einem neuen PCR-Test Mängel entdeckt hat, fordert, "dass die Qualitätskriterien, die erfüllt werden müssen, um COVID-19-Diagnostika auf den Markt zu bringen, dringend präzisiert werden müssen". Die EU-Kommission empfehle zwar seit April 2020 die Prüfung von COVID-19 Diagnostika in wissenschaftlichen Studien, die begutachtet und publiziert werden. "Rechtlich verbindlich ist eine solche Transparenz leider noch nicht", kritisiert Ivo Steinmetz.

Die Krankenkassen bezahlen bisher keine Antigen-Tests, sondern nur klassische PCR-Tests. Labore und Krankenhäuser bekommen dafür rund 42 Euro pro Test von den Krankenkassen erstattet, die Gesundheitsämter zahlen 50,50 Euro, die niedergelassenen Ärzte dürfen für die Abnahme der Tests pro Patienten einen Quartalspauschale in Rechnung stellen, die zwischen 15 und 30 Euro liegt.

Grundsätzlich haben die Krankenkassen nichts dagegen, dass auch Antigentests erstattet werden, doch die Entscheidung darüber liege beim Bewertungsausschuss, einem Gremium von Ärzten und Krankenkassen. Allerdings legen die Kassen Wert darauf, dass solche Tests auch in Laboren ausgewertet werden und nicht vor Ort von mobilen Analysegeräten, wie Sippel sie anbietet.