Wie die EU in die Pandemie stolperte

Am frühen Morgen des 23. Februar startete vom Flughafen Wien aus ein Flugzeug mit 25 Tonnen Atemschutzmasken und Schutzkleidung nach China. Die Lieferung war eine Sammelaktion aus mehreren EU-Ländern. Mehr als 2500 Menschen waren zu diesem Zeitpunkt in China bereits an dem neuartigen Coronavirus verstorben. Im gesamten Februar flog die EU 56 Tonnen Masken, Handschuhe, Schutzkleidung und Desinfektionsmitten nach China.

Doch zur gleichen Zeit breitete sich das Coronavirus bereits in Europa aus. Nur drei Tage nach dem letzten Flug nach China, fragte Italien bei der EU-Kommission nach Masken. In den Krankenhäusern der Lombardei wurde die Lage immer dramatischer, Schutzkleidung fehlte an vielen Orten - doch der Ruf Italiens blieb unerhört. Die EU hatte keine Schutzkleidung mehr zu verteilen. 

Das in London ansässige Büro für Investigativen Journalismus (TBIJ) hat in den vergangenen Wochen die erste Phase des Corona-Ausbruchs in Europa rekonstruiert und vertrauliche Gespräche mit EU-Beamten geführt. Es hat die Ergebnisse und Dokumente mit mehreren europäischen Medien zur Auswertung geteilt, in Deutschland mit NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung".

Die EU-Kommission weist dagegen die Vorwürfe zurück. Auf Anfrage teilt sie mit, sie habe "sehr früh vor der Gefährlichkeit des Coronavirus gewarnt, noch vor der WHO".

Als am 17. Januar das EU-Health Security Committee zum ersten Mal eine Telefonkonferenz über das neue Coronavirus abhielt, fehlte der Vertreter Italiens. Das Komitee wurde im Jahr 2001 von den EU-Gesundheitsministern als informelle Beratungsgruppe eingerichtet.

Aber der Vertreter Italiens konnte seinen Kollegen nichts berichten, weil er die Einladungs-Email nicht bekommen habe, wie sein Büro auf Anfrage mitteilt. Er war aber nicht der einzige, der fehlte: Nur zwölf, also weniger als die Hälfte der EU-Mitgliedstaaten, hielten das Treffen für so wichtig, dass sie daran teilnahmen.

In den kommenden Wochen informierten sich vielen Staaten zum Teil nicht einmal gegenseitig über Maßnahmen wie Grenzschließungen oder Flugverkehrskontrollen. Und auf gemeinsame Maßnahmen einigen konnten sich die Länder im Detail schon gar nicht.

Auf Anfrage teilt die EU-Kommission mit: "Obwohl die Kommission in Fragen der Gesundheit nur eine unterstützende Rolle spielt, ergriff sie bei den ersten chaotischen Reaktionen der Mitgliedstaaten an ihren Grenzen die Initiative und verhinderte das Schlimmste, den vollständigen Stillstand des Verkehrs der meisten lebenswichtigen Güter und Personen."

In einem Bericht vom 14. Februar stellte die Behörde Center for Disease Prevention and Control (ECDC) fest, dass es in verschiedenen EU-Staaten keineswegs klar sei, ob sie gut vorbereitet seien. Denn tatsächlich waren die Bestände an Schutzkleidung und Masken vielerorts abgelaufen, zerstört und waren nicht ersetzt worden.

Frankreich zum Beispiel hatte im Jahr 2011 noch einen Bestand von 1,7 Milliarden Masken, im Jahr 2020 waren es nur noch 117 Millionen. Belgien hatte die Vernichtung von 38 Millionen Masken angeordnet, die nicht ersetzt wurden. Noch bis Mitte Februar arbeitete das ECDC an Plänen, wie im Falle einer Pandemie mit Schutzausrüstung umzugehen sei. In einem überarbeiteten Entwurf, der NDR, WDR, SZ und TBIJ vorliegt, rät die Behörde den EU-Staaten, einen Bestand an Masken aufzubauen, denn "die Produktionskapazität für OP-Masken würde im Pandemiefall schnell überschritten".

Als am 18. Februar Gesundheitsexperten aus ganz Europa bei einem Treffen der ECDC in Stockholm miteinander sprachen, nahm für Deutschland der Leiter der Abteilung Infektionsepidemiologie am Robert Koch-Institut, Osamah Hamouda, teil. Er erklärte, dass der Markt für Masken und persönliche Schutzausrüstung in Deutschland bereits leergefegt und es nicht einfach sei, eine heimische Produktion aufzubauen.

Am 28. Februar trat in Deutschland das erste Mal der gemeinsame Krisenstab von Innenministerium und Gesundheitsministerium zusammen. Der Mangel an Schutzkleidung war da auch schon ein Problem. Das Gesundheitsministerium beantragte deshalb, die Ausfuhr von Schutzkleidung unter einen "Genehmigungvorbehalt" zu stellen.

Einstweilen sollten aber die Beschaffungsämter der Bundeswehr und des Innenministeriums Schutzkleidung einkaufen, die dann zentral verteilt werden sollten. Erst mehrere Woche später räumte die Regierung ein, dass dieser Plan nicht funktioniert hat. Bundeskanzlerin Angela Merkel musste deshalb persönlich mit dem chinesischen Staatschef Xi über Lieferungen verhandeln.

Am 2. März schaltete sich auch die Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, aktiv in die Krisenbekämpfung ein. Sie kündigte ein neues Corona-Krisenteam an. Doch die EU-Staaten handelten ohne Absprache mit Brüssel und verhängten Exportbeschränkungen für wichtige medizinische Güter. Am 3. März legte Präsident Emmanuel Macron die Hand auf alle französische Lagerbestände.

Einen Tag später beschränkte Deutschland den Export von Schutzkleidung, obwohl Gesundheitsminister Spahn drei Wochen zuvor gesagt hatte, es gebe keinen Grund für einseitige Maßnahmen. Insgesamt 15 EU-Mitgliedsstaaten verhängten Lieferbeschränkungen für Schutzkleidung und Medikamente.

Als die EU-Gesundheitsminister am 6. März zu ihrem zweiten Treffen zusammen kamen, hatte sich die Situation bereits "dramatisch verändert", wie der kroatische Minister sagte. Doch für eine Eindämmung war es da schon zu spät. Am 12. März versicherten die Berater von Ursula von der Leyen ihr, dass es "nicht länger möglich ist, den Ausbruch der Pandemie in Europa zu stoppen". Am Tag darauf erklärte die WHO, Europa sei nun das Epizentrum der Coronavirus-Pandemie.