Die Karriere des Wirkstoffs Chloroquin schien bereits beendet, als die Corona-Pandemie begann. Im vergangenen Jahr stellte der Pharmakonzern Bayer die Produktion des alten Malaria-Mittels ein, weil es inzwischen neue und bessere Präparate gab. Doch dann brach das neue Coronavirus in China aus - und Laborversuche deuteten darauf hin, dass Chloroquin gegen das Virus wirkte. Bayer konnte auf einen Imagegewinn hoffen.
Bereits Mitte Februar veröffentlichte der französische Mikrobiologe Didier Raoult einen Aufsatz, in dem er behauptete, dass Corona mit Hilfe von Chloroquin "eine der am simpelsten und billigsten zu behandelnden Krankheiten wird". Raoult ist 68 Jahre alt und leitet in Marseille das Institut für Infektionskrankheiten. Er nimmt in seinem Büro Videos auf, in denen er Chloroquin wie ein Wundermittel preist. Auf YouTube werden diese Filme von Millionen Menschen angeklickt.
In der Fachwelt ist Raoult weniger angesehen. Als er im März eine Beobachtungsstudie mit Coronapatienten ohne Vergleichsgruppe veröffentlichte, kritisierte der Virologe Christian Drosten im NDR-Podcast: "So wie diese Studie gemacht wurde, sind wir kein Stück schlauer." Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, nannte Raoults Studie gar "katastrophal" und "ohne Aussagekraft", doch sie habe zusammen mit vermeintlichen Erfolgsmeldungen aus China "diesen Hype um Choloroquin letztlich ausgelöst".
Staatschefs wie Donald Trump und Jair Bolsonaro werden auf den Wirkstoff aufmerksam. Sie setzen im März nicht auf kritische Stimmen aus der Wissenschaft, sondern auf jene, die behaupten, Chloroquin beziehungsweise sein Abkömmling Hydroxychloroquin sei ein Wundermittel gegen Covid-19. In den USA wird Raoults Studie im Sender Fox News gefeiert.
Einen Tag später teilt Bayer mit, man habe Gespräche auch mit dem Weißen Haus geführt und "jegliche Unterstützung" angeboten. Anschließend erwähnt Trump auf zwei Pressekonferenzen Chloroquin und Hydroxychloroquin, bezeichnet sie als "Game-Changer" und "Geschenk Gottes" im Kampf gegen Covid-19. Er erwähnt den deutschen Pharmakonzern Bayer sogar namentlich. Später fordert Trump seine Anhänger auf: "Nehmen Sie es!" Wenn es wirke, wäre das wunderschön, so Trump, er selbst nehme es zur Vorbeugung.
Bayer trat dem Hype nicht entgegen, im Gegenteil. Mitte Februar warb der Konzern damit, der Provinzregierung von Guangdong Chloroquin-Tabletten zur Verfügung zu stellen. Bayer freue sich, wie es in der Meldung heißt, dass die Medikamente "von Bayer zur Bekämpfung der Pandemie beitragen können". Für die Spende von 300.000 Tabletten an die Chinesen lobte Bayer sich auf der Social-Media-Plattform Weibo selbst: "Bayer hilft wieder einmal im Kampf gegen die neue Coronavirus-Epidemie, indem es mit großer Geschwindigkeit internationale Hilfe mit Medikamenten leistet."
In Deutschland bemühte sich mittlerweile auch Gesundheitsminister Jens Spahn um das Mittel. Am 18. März teilte er mit: "Wir haben für Deutschland bei Bayer größere Mengen Chloroquin reserviert." Bei der Lieferung spielte offenbar auch die Bundesregierung eine Rolle, denn eigentlich durften im März schon keine medizinischen Güter mehr aus Pakistan ausgeführt werden. Doch nur in Pakistan wurden die Chloroquin-Tabletten noch produziert.
Angeblich setzte sich sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der pakistanischen Regierung dafür ein, dass Bayer eine Exportgenehmigung für das Medikament bekommt. Ob das stimmt, beantwortet Bayer auf Anfrage nicht. Eine Sprecherin der Bundesregierung bestätigt gegenüber dem NDR jedoch, dass "die Bundesregierung dazu beigetragen hat, dass ein Teil der Bestände zur Ausfuhr nach Deutschland zugelassen wurde".
Anfang April schrieb Bayer auf seiner Internetseite, es gebe erste Hinweise, "dass unser mehr als 80 Jahre altes Malaria-Prophylaxe-Medikament die Viruslast bei Covid-19-Patienten senkt". Wenig später verkündete Bayer dann auf seiner Facebook-Seite eine "Spende von acht Millionen Tabletten Chloroquin an die deutsche Bundesregierung".
Der Kardiologe Thomas Meinertz, ehemals Vorsitzender der Deutschen Herzstiftung, kritisiert das Vorgehen: "Das ist kein guter Stil. Wenn man ein Medikament hat, dann ist man als Hersteller eigentlich verpflichtet zu prüfen, ob es in dieser Indikation wirksam ist oder nicht. Es waren ja genügend Patienten mit dieser Erkrankung vorhanden, um das systematisch zu untersuchen."
Auch Wolf Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft meint: "Bayer hätte zu diesem Zeitpunkt sagen müssen: Wir haben überhaupt keine wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit und Sicherheit. Und wir warnen davor, dass dieses Medikament außerhalb von klinischen Studien eingesetzt wird." Stattdessen habe der Konzern "massives Marketing" betrieben und sich von seinen Spenden wohl einen Imagegewinn erhofft.
Bayer selbst war zu einem Interview zu dem Thema nicht bereit. Schriftlich teilt der Pharmakonzern dagegen mit, dass er die Chloroquin-Spenden "grundsätzlich nur an staatliche Stellen sowie zur Durchführung klinischer Studien" abgebe. Außerdem habe Bayer hierbei "immer ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein positives Nutzen-Risikoprofil von Chloroquin bei der Behandlung von Patienten, die an Covid-19 erkrankt sind, bislang nicht durch klinische Studien bestätigt ist".
Bereits Anfang April wuchsen die Zweifel, ob das Mittel Patienten mehr nütze als schade. Eine Studie in Brasilien wurde damals wegen einer erhöhten Zahl an Todesfällen unter dem Medikament abgebrochen. In den USA kamen Forscher zu dem Ergebnis, dass Hydroxychloroquin weitgehend nutzlos sei und sogar die Sterberate erhöhe
Im Mai häuften sich schließlich die negativen Schlagzeilen. Mehrere Studien zeigten, dass die Mittel eher schaden als nutzen. Seitdem schweigt Bayer. Seit Wochen findet sich keine neue Information mehr auf der Internetseite des Unternehmens. Auch Trump spricht inzwischen nicht mehr über Chloroquin.
Seit dem 22. April warnt auch die US-amerikanische US-Pharmaaufsichtsbehörde FDA vor schweren Herzrhythmusstörungen unter der Einnahme von Hydroxychloroquin. Mitte Mai schwenkte schließlich auch Fox News um und warnte seine Zuschauer: "Das Medikament wird sie töten."
Inzwischen entzog die FDA dem Mittel die Notfall-Genehmigung für den Einsatz zur Behandlung von Covid-19-Patienten. Auf Basis neuer Studien könne man nicht länger davon ausgehen, dass das oral verabreichte Mittel bei der Lungenerkrankung wirke, teilte die Behörde mit.
Einzig der brasilianische Staatschef Bolsonaro hält dem Mittel auch im Mai noch die Treue. In Brasilien gibt es sogar eine Leitlinie für Ärzte, die den Einsatz des Mittels bei Covid-19-Patienten zum Standard-Medikament erhebt.
Wolf-Dieter Ludwig, Chef der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, kann darüber nur den Kopf schütteln. Der unsachgemäße Gebrauch der Mittel könne auch zu tödlichen Herzrhythmusstörungen führen. Für ihn zeigt sich an dem Fall exemplarisch, was derzeit falsch laufe in der Wissenschaft: Das voreilige Veröffentlichen von Studienergebnissen, die keinen Bestand haben. "Das ist absolut typisch für diese Krisensituation und für diese Pandemie."
Das galt zuletzt sogar für kritische Studien über Chloroquin: So hatten selbst die hochangesehenen Fachmagazine "Lancet" und "NEJM" vor kurzem Studien zu den Mitteln veröffentlicht, die sie wegen falscher Daten wieder zurückziehen mussten. Das sei natürlich Wasser auf die Mühlen von Verschwörungsgläubigen gewesen, die unterstellen, dass Chloroquin in Wirklichkeit tatsächlich helfe, sagt Ludwig.
Ob auch Gesundheitsminister Spahn an das Mittel glaubte, beantwortet das Ministerium auf Anfrage nicht. Die Bundesregierung jedenfalls hat die acht Millionen Chloroquin-Tabletten, die sie von Bayer geschenkt bekommen hat, inzwischen wieder zurückgegeben.