Die "vollständige Kontaktnachverfolgung" von Corona-Infizierten sei "die Grundvoraussetzung für weitere Öffnungsschritte". Darauf hatten sich am 30. April Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Regierungschefs der Länder geeinigt. Im Beschluss der Konferenz heißt es zudem: Seit dem 24. April würden alle Gesundheitsämter in Deutschland an das Robert Koch-Institut (RKI) melden, ob bei ihnen "die vollständige Kontaktnachverfolgung gewährleistet, gefährdet oder bereits aktuell nicht mehr möglich ist".
Doch tatsächlich haben dies nach Informationen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) bis Anfang Mai weniger als die Hälfte der Landkreise getan. Dies geht aus dem Lagebild "Corona" von Innen- und Gesundheitsministerium von dieser Woche hervor.
Demnach haben von den insgesamt 401 Landkreisen 158 gemeldet, dass ihre Kapazitäten ausreichen. Und zwei Landkreise haben mitgeteilt, dass sie Unterstützung benötigen, um die Kontaktverfolgung zu gewährleisten. 241 Landkreisen haben jedoch gar keine Meldung erstattet. Das heißt: Bei über der Hälfte der Gesundheitsämter kann das Robert Koch-Institut demnach nicht sicher wissen, ob die vorhandenen Kapazitäten ausreichen.
Laut dem Beschluss vom 30. April sollen die Bundesländer dafür zuständig sein, die Meldungen aus den verschiedenen Regionen zu übermitteln. Doch bis zum 1. Mai haben laut dem Lagebild Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Brandenburg, Berlin, Niedersachsen und Hamburg keine Angaben gemacht.
Die einzelnen Länder haben offensichtlich unterschiedliche Auffassungen darüber, was konkret verabredet worden ist. Auf Anfrage von NDR, WDR und SZ schrieb Baden-Württemberg, die Meldung der Zahlen ans RKI sei "mittlerweile erfolgt". Niedersachsen teilte mit, dass "aufgrund der aktuell nach wie vor sehr hohen Arbeitsbelastung der Gesundheitsämter" das angesprochene Meldesystem noch nicht vollständig etabliert sei. Es habe aber in den letzten Wochen vereinzelte Meldung aus Ämtern gegeben, "dass die Kontaktpersonennachverfolgung aus Gründen des Personalmangels absehbar nicht mehr vollständig möglich sein könnte".
Andere Länder verneinten dagegen, an das RKI zu melden. Sie sehen es offenbar nicht als nötig an, solange sie keine Probleme haben. Hamburg teilte etwa auf Anfrage mit, dass es, anders als im Bund-Länder-Beschluss vom 30. April festgehalten, keine generelle Pflicht zur Meldung gebe. Es sei bereits zuvor verabredet worden, dass nur gemeldet werden müsse, wenn Probleme in der Kontaktverfolgung der Corona-Infizierten absehbar seien oder bestünden, schrieb die Gesundheitsbehörde per E-Mail - also nicht, wenn alles in Ordnung sei.
Auch das RKI teilte nun mit, dass im geplanten Infektionsschutzgesetz vorgesehen sei, dass die Ämter nur melden sollen, wenn die Kontaktnachverfolgung "nicht mehr gewährleistet ist". Dabei gilt die Arbeit der Gesundheitsämter - die Isolation von Infizierten zu überwachen und Kontaktpersonen zu ermitteln - als "wesentliches Element der Infektionskontrolle". So steht es in dem Bund-Länder-Beschluss. "Wenn die Kontaktnachverfolgung nicht gelingen würde, bestünde die große Gefahr, dass eine neue Infektionsdynamik entsteht."
Allerdings ist die Aufgabe arbeitsintensiv. Nicht nur die Infizierten, auch alle Kontaktpersonen müssen angerufen und gebeten werden, 14 Tage lang zuhause in Quarantäne zu bleiben. Da jeder Infizierte im Schnitt oft fünf bis zwanzig enge Kontaktpersonen hat, die abtelefoniert werden müssen, können die Gesundheitsämter schnell an ihre Kapazitätsgrenzen geraten.
Laut RKI haben mittlerweile fünf Landesbehörden "aktuelle beziehungsweise absehbare Kapazitätsengpässe" mitgeteilt. Dazu gehört unter anderem der Landkreis Ilm. Das dortige Gesundheitsamt bestätigte auf Anfrage, dass es "um personelle Unterstützung für die Kontaktpersonen-Nachverfolgung gebeten" habe. Der Grund dafür seien die aktuell zusätzlich anstehenden Einschulungsuntersuchungen. Vier Ärzte und vier Schwestern aus dem Kreis seien damit befasst. Deshalb würden zusätzlich sogenannte "Containment-Scouts" eingesetzt.
Auch im Landkreis Harz in Sachsen-Anhalt sind solche Helfer bereits im Einsatz. Das dortige Gesundheitsamt ist überlastet, weil im Landkreis auch die Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge für das Land Sachsen-Anhalt liegt, das sich Angaben des Landratsamtes "in der Zeit der Coronavirus-Pandemie zu einem Hotspot entwickelt" habe.
Die hohen Infektionen dort seien "mit dem vorhandenen Personal kaum zu bewältigen", wie die Sprecherin des Landkreises mitteilt. Deshalb freut sich der Landkreis Harz über die neuen Scouts, die das RKI geschickt habe und lobt, dass "die hohe Motivation der Studenten ausschlaggebend ist für die Bewältigung der Aufgaben im Gesundheitsamt."
Die kreisfreie Stadt Gera hat ebenfalls Unterstützungsbedarf angemeldet. Hier sei der Grund, dass das Gesundheitsamt seit Beginn der Pandemie mit Personal aus anderen Bereichen der Stadtverwaltung aufgestockt worden, aber diese nun wieder an Ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurückkehren sollen, "um dort wieder Schritt für Schritt in einen Normalbetrieb zu gelangen", teilte das Amt mit.
Gleichzeitig erwartet es, dass durch die am 6. Mai beschlossenen, weiteren Lockerungen, es wieder mehr Kontakte geben wird, "die es im Fall einer Infektion nachzuverfolgen gilt". Das Gesundheitsamt weist daraufhin, dass laut einem Beschluss für diese Aufgabe fünf Mitarbeiter je 20.000 Einwohner benötigt würden. In Gera seien aktuell 20 Mitarbeiter vorhanden, die Stadt habe jedoch 95.000 Einwohner, benötigt also rechnerisch mehr als die 20 Kräfte.
Das Gesundheitsministerium hat für solche Fälle die Finanzierung von 500 zusätzlichen so genannten "Containment-Scouts" versprochen, die das Robert Koch-Institut auswählt und dann den örtlichen Gesundheitsämtern zuteilt. Als das RKI im März die Scout-Stellen ausgeschrieben und bei einem Bruttolohn 2325 Euro vor allem Studenten im Visier hatte, hatten sich mehr als 11.000 Bewerber gemeldet. Bis Mitte dieser Woche wurden 362 dieser Scouts bereits eingestellt, wie das RKI auf Anfrage mitteilt.