In Deutschland hatte das Robert Koch-Institut bis vor kurzem noch davon abgeraten, Covid-19-Tote zu obduzieren. Zu gefährlich erschien diese Untersuchung, da die Ärzte sich dabei möglicherweise selbst infizieren könnten.
In der Schweiz gab es "keine Vorgaben in diesem Sinne", sagt Alexandar Tzankov, Leiter des Fachbereichs Autopsie am Unispital in Basel. "Wir sind ein sehr liberaler und nicht zentralistischer Staat." In der Schweiz obduziere bislang schon jeder Pathologe je nach Ausstattung der Autopsiesäle und "je nach Mut". Für Tzankov ist es auch selbstverständlich zu obduzieren. Denn nur so könne man die genaue Todesursache ermitteln - die "Physiologie des Sterbens" - die auch für die Behandlung schwerkranker Corona-Patienten wichtig sei. Insgesamt seien an der Uni Basel bisher 20 Covid-19 Verstorbene obduziert worden, sagt Tzankov. Ihnen allen sei gemein, dass sie Bluthochdruck hatten.
Allerdings leiden in Deutschland unter den über 70-Jährigen drei von vier Menschen unter Bluthochdruck. Ein Großteil der Patienten, so Tzankov, sei zudem deutlich übergewichtig gewesen, mit einem Body-Mass-Index von höher als 30, zum Teil auch bis 60. Ein Drittel der Patienten habe an Diabetes gelitten, 70 Prozent seien mit vorgeschädigten Herzkranzgefäße belastet gewesen, sagt Tzankov.
Am interessantesten seien aber die feingeweblichen Untersuchungen gewesen, berichtet der Pathologe. "Die wenigsten Patienten hatten eine Lungenentzündung, sondern das, was wir unter dem Mikroskop gesehen haben, war eine schwere Störung der Mikrozirkulation der Lunge." Das heißt, der Prozess des Sauerstoffaustauschs funktionierte nicht mehr. "Man kann dem Patienten so viel Sauerstoff geben wie man will, der wird dann einfach nicht mehr weiter transportiert." Das erkläre auch, warum sich die Intensivmediziner so schwer tun bei der Beatmung.
Pathologen der Universität Zürich hatten vergangene Woche im Fachblatt "Lancet" nach der Analyse von zwei Verstorbenen und einem überlebenden Patienten ebenfalls darauf hingewiesen, dass das Coronavirus nicht nur die Lunge angreift, sondern zu einer schwerwiegenden Gefäßentzündung verschiedenster Organe führen kann.
In Deutschland sterben aktuell 30 Prozent aller Covid-19-Patienten, die auf Intensivstationen liegen, wie das Deutsche Register der Intensivmediziner auf seiner Website mitteilt.
Bis vor zwei Wochen hatte das Robert Koch-Institut auf seiner Website die Empfehlung gegeben: "Eine innere Leichenschau, Autopsien oder andere aerosolproduzierende Maßnahmen sollten vermieden werden." Tobias Welte vom Deutschen Zentrum für Lungenforschung hatte diese Empfehlung "mit Befremden" zur Kenntnis genommen und die Deutsche Gesellschaft für Pathologie aufgefordert, auf eine Korrektur dieser Empfehlung zu drängen.
Inzwischen ist der Satz von der RKI-Seite verschwunden. Stattdessen erklärte RKI-Vizechef Lars Schaade während der heutigen Pressekonferenz: "Gerade wenn die Erkrankung neu ist, ist es wichtig, möglichst viel zu obduzieren." Denn daraus könne man neue Erkenntnisse erhoffen, zum Beispiel sehe es so aus, "dass dieses Virus sehr viel mehr Organe betreffen kann als wir den ersten Berichten aus China entnehmen konnten".
Karl Friedrich Bürrig, Präsident des Bundesverbands Deutscher Pathologen, hält die bis vor kurzem gültige RKI-Empfehlung für einen Lapsus. Obduktionen hätten "bei allen modernen Infektionskrankheiten einen wesentlichen Beitrag geleistet", sagt Bürrig. Der Verband habe deshalb in der vergangenen Woche alle Pathologen angeschrieben und gebeten, "Obduktionen von Covid-19-Verstorbenen durchzuführen".
Die Ergebnisse sollen ab sofort an ein neu eingerichtetes Register an der RWTH Aachen gemeldet werden. "Wir haben als Pathologen die einzigartige Möglichkeit, durch Obduktionen die Therapie der Erkrankten zu verbessern", heißt es in einem Schreiben des Aachener Registers an die Pathologen. Nicht nur die Lungenfachärzte, auch die Öffentlichkeit schaue "aktuell mit einer gewissen Erwartung auf unser Fachgebiet", versichert Bürrig seinen Kollegen.
Einer der sich bisher schon nicht an die Obduktionsempfehlungen des RKI gehalten hatte, ist der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel. NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" liegt ein Bericht vor, der in der vergangenen Woche von der Rechtsmedizin an die Hamburger Gesundheitsbehörde geschickt wurde und eine Auflistung aller obduzierten Verstorbenen enthält.
Dem Bericht nach wurden in Hamburg zwischen dem 22. März und 11. April 65 Covid-19-Verstorbene obduziert. Sie stammen aus den Hamburger Krankenhäusern ebenso wie aus Altenheimen und Pflegeeinrichtungen. Bei 61 davon wurde die Coronaviruserkrankung als ursächlich für den Tod eingetragen. Vier sind nicht an, sondern nur mit dem Virus gestorben.
Der Basler Pathologe Tzankov hält die Unterscheidung von "an" und "mit" Covid-19-Verstorbenen für unergiebig. "Wenn ich eine Krebserkrankung habe und noch ein halbes Jahr lebe und mich ein Auto überfährt, dann mindert das ja auch nicht die Schuld des Autofahrers", sagt er. Ähnlich sei es bei Covid-19. Natürlich hätten die Verstorbenen viele Vorerkrankungen und die Lebenserwartung sei sicher kürzer als die von Gesunden. "Aber alle diese Patienten hätten wahrscheinlich ohne Covid-19 länger gelebt, vielleicht eine Stunde, vielleicht einen Tag, eine Woche oder ein ganzes Jahr." Ohne das Coronavirus wären die Verstorbenen, die er obduziert habe, "wahrscheinlich noch am Leben".
Der Hamburger Rechtsmediziner Prof. Püschel bestätigt zwar die Existenz des Berichts aus seinem Institut an die Behörde, will Fragen dazu im Detail aber nicht beantworten. Nur so viel: Inzwischen betrage die Zahl der Obduzierten in Hamburg nicht mehr 61, wie in dem Bericht, sondern 100. Ähnlich wie in Basel sei aber auch hier "keiner ohne Vorerkrankungen" gewesen, sagt Püschel.
Im Detail listet der Bericht auf, dass von den 61 Covid-19-Verstorbenen in Hamburg 55 eine "kardiovaskuläre Vorerkrankung" hatten, also Bluthochdruck, Herzinfarkt, Arteriosklerose oder eine sonstige Herzschwäche. 46 Patienten hatten zuvor bereits eine Lungenerkrankung. 28 von ihnen hatten andere organische Schädigungen wie Niereninsuffizienz, Leberzirrhose oder hatten eine Transplantation hinter sich. Zehn der Obduzierten hatten Diabetes oder schweres Übergewicht, ebenfalls zehn eine Krebserkrankung und 16 litten an Demenz.
Der Befund deckt sich mit einem Bericht der Nationalen Gesundheitsbehörde in Italien vom 16. April. Die Behörde listet die Vorerkrankungen von 1738 Personen auf, die dort im Krankenhaus gestorben waren. Es handelt sich allerdings nicht um Obduktionen, sondern um Angaben aus den Krankenakten. Demnach hatten unter den Toten in Italien 96,4 Prozent mindestens eine Vorerkrankung. Am häufigsten auch hier: Bluthochdruck mit 70 Prozent, gefolgt von Diabetes mit 32 Prozent und Erkrankung der Herzkranzgefäße mit 28 Prozent.
Weltweit haben bisher nur wenige Pathologen verstorbene Covid-19-Patienten untersucht - auch aus Sicherheitsgründen. In China durften in der frühen Phase des Ausbruchs zunächst keine Autopsien durchgeführt werden. Erst später wurden sie unter strengen Vorschriften erlaubt. In Wuhan erfüllten jedoch nur wenige Labore diese Anforderungen, schreiben die Autoren einer Studie aus China, die Mitte April veröffentlicht wurde. Die Wissenschaftler dort behelfen sich deshalb teils damit, Gewebeproben von Verstorbenen zu untersuchen.
In Italien lag das Durchschnittsalter der Verstorbenen bei 79 Jahren, in der Rechtsmedizin in Hamburg bei 80 Jahren. Püschel selbst will seine Ergebnisse jetzt auch an das Register an der Technischen Hochschule Aachen schicken. Darüber freut sich auch Pathologenpräsident Bürrig. Erste Ergebnisse aus Aachen erwartet er aber noch nicht bald. "Ein gutes halbes Jahr wird sicherlich vergehen, bevor jemand erste Ergebnisse zusammenfasst", sagt Bürrig. "Alles anderes wäre nicht seriös."