Der hässliche Hoffnungsträger

Der Karfreitag war ein guter Tag für Gilead-Boss Daniel O'Day. Erst veröffentlichte die US-Medizinzeitschrift NEJM einen Artikel über Remdesivir, den Gilead-Wirkstoff, der zur Zeit an schwerkranken Corona-Patienten getestet wird. Wenig später wandte sich der Pharmachef mit einem "offenen Brief" an die Welt und teilte freudig mit, dass Remdesivir bei der Mehrheit der Patienten eine "klinische Verbesserung" gezeigt hatte.

Weltweit setzen Ärzte bei der Suche nach einem Medikament gegen die Coronavirus-Erkrankung derzeit auf den Wirkstoff Remdesivir - auch wenn es bisher noch keine klinische Vergleichsstudie gibt, in der das Mittel einen Nutzen gezeigt hat. Das Medikament wurde einst im Kampf gegen Ebola entwickelt, erwies sich dort aber als weitgehend nutzlos. In Laborversuchen habe sich das Mittel jedoch wirksam gegen Sars-Erreger gezeigt, wie Gilead auf seiner Website schreibt.

Deshalb laufen jetzt weltweit Studien zu Remdesivir bei Covid-19 an: Gilead selbst unternimmt mehrere, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das US-amerikanische National Institute of Allergy and Infectious Disease haben jeweils zwei besonders hochwertige, Placebo-kontrollierte Studien gestartet.

Auch in Deutschland rekrutieren die Unikliniken in München, Düsseldorf und Hamburg derzeit Freiwillige, die mit dem Coronavirus infiziert sind und an denen das Mittel getestet werden soll. Für Wolf Dieter Ludwig, den Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, ist unter den vielen Wirkstoffen gegen Covid-19, an denen derzeit weltweit geforscht wird, das Gilead-Mittel das hoffnungsvollste.

Gute Nachrichten hat der Pharmakonzern auch bitter nötig, denn Gilead ist zwar ein Liebling der Börse. Weltweit steht das Unternehmen aber seit Jahren in der Kritik, weil es seine Medikamente besonders teuer verkauft. Als Gilead im Jahr 2015 in Deutschland ein gut wirksames Medikament gegen Hepatitis C für mehr als 40.000 Euro anbot, stöhnte selbst der damalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) über den "Missbrauch von Marktmacht zulasten der Versichertengemeinschaft". 2017 forderten mehrere internationale Aids-Organisationen, die Behandlung von HIV-Patienten nicht weiter durch überzogene Preise zu behindern.

Deshalb passt es derzeit für Gilead ganz gut, sich als Hoffnungsträger präsentieren zu können. Selbst US-Präsident Donald Trump appellierte vor kurzem an den Gilead-Chef: "Schaffe es, Daniel, enttäusche uns nicht!"

Doch die Hoffnung auf einen Imagewechsel trübt ein Prozess in den USA, der sich mittlerweile schon über fünf Jahren hinzieht. NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) liegen die Gerichtsakten vor, aus denen hervorgeht, dass ein ehemaliger hochrangiger Manager von Gilead seinen Arbeitgeber unter anderem beschuldigt, in früheren Medikamententests bei Kindern verunreinigte Wirkstoffe eingesetzt zu haben.

Die Vorwürfe gehen auf das Jahr 2005 zurück. Jeffrey Campie war damals leitender Direktor für globale Qualitätssicherung bei Gilead. Der Pharmakonzern unternahm in dieser Zeit eine Studie, um ein bereits zugelassenes HIV-Medikament auch an Kindern zu testen, damit auch sie davon profitieren können. Doch immer wieder, so die Vorwürfe des ehemaligen hausinternen Qualitätsmanagers, finden Mitarbeiter schwarze und braune Punkte in dem Wirkstoff, die sie sich nicht erklären können.

Schon seit mehr als zwei Jahren hatte das Unternehmen demnach nach einer Lösung für das Problem gesucht. Vergeblich. Schließlich hätten die Verantwortlichen dem Wirkstoff-Lieferanten mitgeteilt, die Teilchen einfach zu ignorieren. "Als würde das Problem verschwinden, wenn sie ihre Augen davor verschließen", heißt es dazu in der Klageschrift gegen das Unternehmen aus dem Jahr 2014. Campie hatte sich, so steht es in der Klage, als Whistleblower an US-amerikanische Behörden gewandt, weil er das systematische Wegsehen nicht habe mittragen wollen.

Der Vorwurf: Gilead soll in verschiedenen Wirkstoff-Lieferungen die Verunreinigungen nicht nur bemerkt, sondern sie danach für die Verwendung in der Studie an Kindern freigegeben haben. Konkrete Fragen zu diesem Vorgang ließ der US-Pharmakonzern unbeantwortet. Allgemein teilte das Unternehmen gegenüber NDR, WDR und SZ mit: "Gilead glaubt, dass die Behauptungen von Campie unbegründet sind." Das Unternehmen sei vielmehr von der "Qualität und Konformität" dieser Arzneimittel überzeugt. Die Arzneimittelbehörde habe die Produkte nach einem strengen Inspektionsverfahren genehmigt.

NDR, WDR und SZ haben die Prozessakten auch Rolf Bass gezeigt, dem ehemaligen Leiter des Ausschusses für Humanmedizin bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA. "Wenn etwas kriminell und nicht wegzureden ist, dann ist es das", sagt Bass. "Ich kann den Wirkstoffproduzenten nicht darum bitten, dass er nach dieser Verunreinigung nicht mehr sucht. Das ist absolut unethisch".

Whistleblower Campie hat nach eigenen Angaben in der Klage immer wieder gewarnt, dass das Unternehmen gegen Regeln und Gesetze verstoße und das Leben von Patienten riskiere. Deshalb habe man ihm erst Informationen vorenthalten und ihn 2009 schließlich entlassen.

In den USA können Whistleblower im Interesse des Staates klagen, wenn sie substanzielle Vorwürfe vorbringen. Die US-Regierung hatte sich der Klage angeschlossen, weil die staatlichen Krankenversicherer Medicaid und Medicare zuvor die entsprechenden Präparate bezahlt hatten und deshalb einen möglichen Schaden geltend machen können. Das Ziel von Campie: Gilead soll an die USA Schadensersatz zahlen. Whistleblowern stehen bei solchen Prozessen im Fall des Erfolgs bis zu einem Viertel der Schadensersatzforderungen zu.

Laut der Klageschrift hatten sich die schwarzen und braunen Punkte im HIV-Medikament später als zwei verschiedene Stoffe herausgestellt: Einer sei vermutlich Paracetamol, wie ein Zulieferer des Wirkstoffes herausgefunden haben soll. Zum anderen habe Gilead in einem internen Vermerk festgestellt, dass es sich bei den schwarzen Punkten möglicherweise um "PTFE Verpackungsmaterial handelt" - zu deutsch: Teflon. In das HIV-Medikament gehörten weder Paracetamol noch Teflon, so die Klageschrift.

Das soll angeblich auch das Management von Gilead Sciences gewusst haben. So beschreibt die Klage ein Meeting, bei dem es um das HIV-Medikament Viread und die bekannten Probleme ging. Eine Präsentation erwähnte die Verunreinigungen im Wirkstoff. Daraufhin soll ein Senior Director gesagt haben: "Ich würde mir einfach wünschen, wir könnten mal eine Charge ohne Verunreinigung produzieren."

Doch die Verunreinigungen sind nicht der einzige Vorwurf in diesem Verfahren. Ein weiterer lautet, dass Gilead Wirkstoff für HIV-Medikamente von einer chinesischen Firma bezog, die für den amerikanischen Markt zum damaligen Zeitpunkt keine Zulassung besaß. Gilead habe Geld sparen wollen, so der Vorwurf in der Klage.

Zwei der Lieferungen des chinesischen Fabrikanten seien bei internen Tests durchgefallen. Für einen Teil der Tests hätten Gilead-Mitarbeiter eine mikrobiologische Verunreinigung "höher, als wir sie sonst für dieses Material sehen" festgestellt. Dennoch habe Gilead "die Lieferung für Arzneimittelherstellung und letztendlich für den freien Verkauf freigegeben".

Der seit 2014 andauernde Prozess sollte eigentlich Anfang des vergangenen Jahres vor dem höchsten US-amerikanischen Gericht, dem Supreme Court, entschieden werden. Doch das Gericht hat die Klage an das Bezirksgericht in Kalifornien zurückverwiesen, dem US-Bundesstaat, in dem Gilead seinen Sitz hat. Nach mehreren Jahren hatte die US-Regierung im vergangenen Jahr aber mitgeteilt, sie würde sich aus dem Verfahren zurückziehen, Aufwand und Nutzen stünden in keinem Verhältnis mehr, so der zuständige Staatsanwalt.

Gilead wertet das in seiner Stellungnahme gegenüber NDR, WDR und SZ dahingehend, dass "das Justizministerium beschlossen hat, die Behauptungen zurück zu weisen". Darüber hinaus sei Gilaed der Ansicht, "dass die verbleibenden Klagen ebenfalls unbegründet sind", weshalb man die Abweisung der Klagen beantragt habe.

Am Bezirksgericht in Kalifornien ist das Verfahren nach wie vor anhängig, wie das Gericht auf Anfrage mitteilte.