Innenministerium will mehr Tests

Im Kampf gegen das Coronavirus orientiert sich das Bundesinnenministerium am Vorbild Südkoreas: Das asiatische Land konnte mit Massentests und der Isolierung von Erkrankten die Ausbreitung des Erregers stark verlangsamen, ohne das öffentliche Leben zum Stillstand zu bringen. Die größtmögliche Erhöhung der Testkapazitäten in Deutschland sei deshalb "überfällig", heißt es nach Informationen von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" in einem vertraulichen Strategiepapier aus dem Innenministerium mit dem Titel "Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen".

Demnach müsse die Regierung auf ein Szenario namens "Schnelle Kontrolle" hinarbeiten, um schlimmere Folgen für Gesundheit, Wirtschaft und Gesellschaft abzuwenden. Die bei weitem wichtigste Maßnahme gegen das Virus ist den Experten zufolge "das Testen und Isolieren der infizierten Personen". Getestet werden sollten "sowohl Personen mit Eigenverdacht als auch der gesamte Kreis der Kontaktpersonen von positiv getesteten Personen". Das entspricht nicht der heutigen Praxis in Deutschland, bei der nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) nur Personen getestet werden sollen, die Symptome zeigen und Kontakt zu Infizierten hatten beziehungsweise zu einer Risikogruppe gehören.

Die Autoren des Innenministerium-Papiers empfehlen, dass die Testkapazität in Deutschland "sehr schnell" hochgefahren werden solle. So spielen sie ein Szenario durch, in dem die Testkapazitäten bis Ende April schrittweise auf 200.000 Tests am Tag erhöht werden sollen. Derzeit sind nach Angaben von Gesundheitsminister Jens Spahn wöchentlich 300.000 bis 500.000 Coronavirus-Tests möglich. Nur mit deutlich erhöhtem Testen und konsequenter Isolierung von infizierten Personen könne ein Worst-Case-Szenario abgewendet werden, so die Schlussfolgerung.

Die bisherige Methode nach dem Motto "Wir testen, um die Lage zu bestätigen" müsse daher abgelöst werden durch den Ansatz "Wir testen, um vor die Lage zu kommen". In dieser Hinsicht sei Südkorea ein "eindrucksvolles" Vorbild. Anders als etwa China hat Südkorea keine allgemeinen Ausgangsverbote verhängt. Für breit angelegte Tests seien innovative Lösungen erforderlich, heißt es in dem Strategiepapier.

Um das medizinische Personal vor Infizierten zu schützen, sollten Bürgerinnen und Bürger den notwendigen Rachenabstrich selbst erledigen, zum Beispiel in "Drive-ins"- oder Telefonzellen-Teststationen. Dies ist unter Fachleuten jedoch umstritten, weil man selbst bei der Probenentnahme oft nicht tief genug in den Rachen kommt.

Um die Suche nach Kontakten von positiv getesteten Personen zu erleichtern, sollten längerfristig computergestützte Lösungen und sogar das "Location Tracking" von Mobiltelefonen zum Einsatz kommen. Alle positiv Getesteten müssten isoliert werden, zu Hause oder in einer Quarantäne-Anlage. Sobald diese Verfahren einmal eingespielt seien, "können sie relativ kostengünstig über mehrere Jahre hinaus die wahrscheinlich immer wieder aufflackernden kleinen Ausbrüche sofort eindämmen", heißt es in dem Papier.

Bundesinnenminister Horst Seehofer gab die Studie am 18. März bei der Grundsatzabteilung seines Hauses in Auftrag. Sie entstand binnen weniger Tage mithilfe des RKI und weiterer Fachleute, unter anderem von ausländischen Universitäten. Inzwischen liegt das Papier auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Gesundheitsminister Jens Spahn vor.

Aus Sicht der Autoren des Innenministeriums ist es für den Erfolg entscheidend, dass es der Bundesregierung gelingt, die Bevölkerung zu mobilisieren. In dem Papier heißt es, es sei daher notwendig, die Menschen noch stärker als bisher vom Ernst der Lage zu überzeugen und mit verbreiteten Fehlvorstellungen aufzuräumen. Zum Irrglauben gehöre es etwa, dass das Virus nur die Alten treffe oder für Kinder harmlos sei.

Den Experten zufolge müssten alle Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass auch sie in eine dramatische Lage geraten könnten, zum Beispiel weil schwerkranke Angehörige von überfüllten Krankenhäusern abgewiesen würden. Notwendig sei daher eine "deutschlandweite und transparente Aufklärungs- und Mobilisierungskampagne".

Dabei gehen die Autoren des Innenministerium-Papiers von deutlich höheren Todesraten und Schwerkranken aus als das RKI. Während das Institut zum Beispiel annimmt, dass in Deutschland 0,56 Prozent der Infizierten am Coronavirus sterben werden, rechnet das Innenministerium mit 1,2 Prozent. Entsprechend ernster sind daher die Szenarien, die das Papier durchspielt.

Als Teil einer Kampagne wollen die Autoren alle Deutschen auf das gemeinsame Ziel einschwören, ein Worst-Case-Szenario zu vermeiden, in dem sich die Krankheit monatelang unkontrolliert ausbreiten würde, mit vielen Toten sowie massiven Folgen für die Wirtschaft und die Gesellschaft. "Um die gesellschaftlichen Durchhaltekräfte zu mobilisieren, ist das Verschweigen des Worst Case keine Option", heißt es.

Es ist bei Planspielen dieser Art üblich, dass Experten das schlimmste Szenario durchspielen: In diesem Fall gehen die Fachleute davon aus, dass bei einer ungebremsten Verbreitung des Virus, also bei einem Szenario ohne Abstandsregeln, ohne Schulschließungen, ohne Homeoffice und ohne Reisebeschränkungen bereits im Mai 80 Prozent der Patienten, die eigentlich auf die Intensivstation müssten, von den Krankenhäusern abgewiesen würden.

Das positivste Szenario dagegen, das die Autoren aus dem Innenministerium anstreben, trägt den Namen "Hammer and Dance". Es bedeutet, dass das Virus zunächst mit Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen eingedämmt wird und die Fallzahlen binnen sechs Wochen deutlich zurückgehen. Nach dieser Phase des Holzhammers, also etwa zum Ende der Osterferien, könnte dann die "Dance"- oder Tanzphase beginnen: Kindergärten und Schulen würden wieder öffnen, die Infektion würde dann durch intensives Testen, Nachverfolgung von Kontakten und Isolation kontrolliert. Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben kehre dann "weitgehend zurück zur Normalität", heißt es in dem Papier. Bei diesem Szenario ließe sich der Einbruch des Bruttoinlandsprodukts auf etwa vier Prozent begrenzen, dies sei der wirtschaftliche "Best Case".

Ohne das umfangreiche Testprogramm aber könne es zu Szenarien kommen, bei denen die Krise in Wellen immer wiederkehre, oder bei denen ein schnelles Eindämmen misslinge und Ausgangsbeschränkungen über Monate notwendig seien.